SWR3 Gedanken

SWR3 Gedanken

Dass er arm ist, sieht man dem alten Mann nicht sofort an. Ich muss schon genauer hinschauen. Die Schuhe alt und verschlissen, die Hose schon länger nicht mehr gewaschen, denke ich. Ich sitze im Zug, ein Buch in der Hand. Es sind nur wenige Fahrgäste im Zug. Der alte Mann geht durch die Wagen, öffnet jeden Müllbehälter und schaut hinein. Aus der Stadt oder vom Bahnsteig kenne ich das Bild ja schon. Im Zug sind sie mir noch nicht begegnet, die Schatzsucher, die im achtlos weggeworfenen Müll nach Wertvollem wühlen. Sie werden immer mehr, scheint mir.

Ich verspüre den Reflex, ihm etwas zu geben. Ein paar Münzen vielleicht. Geld, das ich locker entbehren könnte und mache es dann doch nicht. Es kommt mir erniedrigend vor. Und ich verspüre noch etwas anderes. Scham. Ich schäme mich, einem alten Mann dabei zuschauen zu müssen, wie er im Müll der Anderen nach Schätzen sucht. Ich schäme mich für mein reiches Land, das es immer weniger hinbekommt, seinen immensen Reichtum auch nur halbwegs gerecht zu verteilen. Und ich schäme mich für mich selbst. Dass ich es nicht fertig bringe, dagegen ein Zeichen zu setzen. Als ich aussteige sehe ich ihn zusammengekauert auf einem Platz sitzen, sein Gesicht in die Hände vergraben. Es war offenbar kein guter Tag für ihn.

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