SWR2 Wort zum Tag

SWR2 Wort zum Tag

„Alles in Maßen!“ Wenn mir das jemand vorhält, dann fühlt sich das für mich so an: Da will jemand meine Lebenslust bremsen, Nur ja nicht über die Stränge schlagen. Das klingt nach Dressur, nach Disziplinierung. Nicht zu viel von allem: Ist das Maßvolle nur etwas für Senioren, für den letzten Lebensabschnitt? Mich überrascht: Ein 28 Jähriger hat das Mittelmaß propagiert. Er erbittet es inständig. Von Gott. Der Dichterpfarrer Eduard Mörike. In einem Gebet bittet er Gott:

Wollest mit Freuden //  Und wollest mit Leiden Mich nicht überschütten! // Doch in der Mitten Liegt holdes Bescheiden.

Mörikes „Lob der Mitte“ klingt sehr fremd in meinen Ohren. Wie aus einer anderen Welt: Doch in der Mitten - Liegt holdes Bescheiden. Da spricht sich das antike Ideal der „goldenen Mitte“ aus: Nichts im Übermaß! Doch was mich überrascht – Mörike bittet nicht nur um ein »Genießen in Maßen«. Ich bete und bitte in aller Regel um Verschonung, um Bewahrung, um Heilung. Mörike bringt in seinem Gebet Freuden  u n d  Leiden vor Gott. Und nun nicht so, dass die Leiden verschwinden sollen und alles eitel Sonnenschein ist. Mörike hat Schweres durchgemacht. Den Vater hat er früh verloren, verstörende erotische Erfahrungen haben ihn lange beunruhigt, der jüngere Bruder stirbt, da war er selber gerade einmal 20. Bald darauf eine Schwester. Gesundheitliche Probleme, unerfüllte Partnerschaften...  

Ich wundere mich, wie viel Menschen durchstehen können. Wie viel Schweres. Einst und Heute. Auf der Flucht – im Krieg – in der Familie.
Mörike betet nicht schicksalsergeben. Er erbittet von Gott ein Maß: Bewahre mich vor zu viel ! Ich weiß, es gibt Freud und Leid im Leben – aber ich kann nur ein bestimmtes Quantum verkraften. Etliche Jahre später stellt Mörike seinem Gebet wie zur Bekräftigung eine zweite Strophe voran: Herr! schicke, was du willst (original: willt),

Ein Liebes oder Leides; // Ich bin vergnügt, dass Beides // Aus Deinen Händen quillt.

Vergnügt - beides aus Gottes Händen annehmen. Ich selber bin kein Kind von Trauer und will es auch nicht sein. Kann sein, so wie Mörike beten fällt mir deshalb noch schwer. Aber ich möchte es gerne. Und so borge ich mir ab und zu Mörikes Worte für mein Gebet.
Denn soviel habe ich schon begriffen: „Beides“ – „Liebes und Leides“ – macht die Tiefe meines Lebens aus. Und das ist alles andere als ein fades Mittelmaß.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=21637
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