SWR4 Abendgedanken

SWR4 Abendgedanken

Manchmal hält sich mein Mitleid in Grenzen: Wenn Skifahrer in gesperrten Gebieten unterwegs sind und von einer Lawine verschüttet werden. Oder wenn ich so aggressiv angebettelt werde, wie es mir neulich passiert ist, dann interessiert mich das Schicksal eines Menschen in diesem Moment überhaupt nicht, dann will ich nur weg. Dabei bin ich durchaus ein Mensch, dem das Leben anderer nicht gleichgültig ist. Der mitfühlen kann und immer helfen und trösten will, wenn es jemandem schlecht geht. Aber manchmal klappt das halt nicht: Wenn ich mich über jemanden ärgere, sein Verhalten für mich unverständlich ist. Bei einem Fremden. Mit einem Menschen, den ich gut kenne, der mir sympathisch ist, habe ich dagegen auch Mitleid, wenn er vielleicht eine Dummheit gemacht hat. Auch wenn ich eine Sache mal ganz anders sehe als er oder sie, versuche ich zu trösten, sage dass es mir leid tut.

Mitgefühl ist lebensnotwendig - für alle Menschen. Wir brauchen ein Klima der Sympathie, also des Mitfühlens, hat der Schriftsteller Max Frisch gesagt, ein generelles Wohlwollen, das uns trägt. Und deshalb ist es für unser Zusammenleben so wichtig, dass wir offen bleiben füreinander, ganz grundsätzlich, uns füreinander interessieren, so unterschiedlich wir auch sein mögen.
Auch wenn mir manche Menschen nicht so sympathisch sind, weil sie ganz anders sind als ich. Es ist gut, wenn ich wenigstens versuche, mich in sie hineinzuversetzen, damit ich ihre Probleme, ihre Nöte verstehen kann, mitfühlen kann.

Mitgefühl ist der Kitt einer Gesellschaft. Er hält die großen Unterschiede, die es da gibt, zusammen. Das gilt besonders, wenn die sozialen Unterschiede immer größer werden. Die verschiedenen Milieus wenig miteinander zu tun haben. Wenn es immer mehr alte Menschen gibt. Verschiedene Lebensmodelle. Menschen aus fremden Kulturen die Gesellschaft verändern. Um eine Gesellschaft, in der die Menschen verlernen, sich in andere hineinzuversetzen, oder es gar nicht wollen, ist es schlecht bestellt. Mitgefühl ist nicht angeboren, es gibt kein Gen, das dafür zuständig ist. Wie alle sozialen Fähigkeiten, kann sich Mitleid nicht ohne Anregung entwickeln. Deshalb müssen Kinder schon ganz früh Mitgefühl üben. Ein Gespür dafür bekommen, wie es sich anfühlen kann, anders zu leben, anders zu sein. Wie lebt man ohne die Dinge, die für einen selbstverständlich sind. Wie kann es sich anfühlen, abends hungrig schlafen zu gehen, zu frieren oder niemanden zu haben, der einen tröstet, wenn man Kummer hat. Wenn Kinder verstehen, dass sich nicht alles nur um sie dreht, dann  können sie sich zu Erwachsenen entwickeln, denen ihre Mitmenschen nicht gleichgültig sind.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=21635
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