SWR2 Wort zum Tag

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Wir befinden uns seit dem 8. Dezember 2015 im „Heiligen Jahr der Barmherzigkeit“, zumindest nach katholischer Lesart. Offiziell ausgerufen wurde dieses Jahr von Papst Franziskus, für den die „Barmherzigkeit“ so etwas wie ein Grundbegriff, das Zentrum seines eigenen Programms zu sein scheint.

Mein Blick fällt dabei auf die sogenannten „Sieben Werke der Barmherzigkeit“, die es nach biblischer Lehre und christlicher Tradition gibt: Die Hungrigen speisen, den Dürstenden zu trinken geben, die Nackten bekleiden, die Fremden aufnehmen, die Kranken besuchen, die Gefangenen besuchen, die Toten begraben.

In früheren Zeiten, die für die Einzelnen noch viel unsicherer waren, gab es ja keine staatlich organisierte Sozialstrukturen, keine Versicherungen und Rücklagen. Menschen, vor allem arme Menschen, waren komplett davon abhängig, dass andere barmherzig mit ihnen waren und ihnen diese eben genannten Werke zugutekommen ließen. Ich bin froh, dass ich heute nicht mehr nur auf Barmherzigkeit angewiesen bin, sondern mich in weiten Bereichen meines Lebens auf sichernde Strukturen verlassen kann. Zu sehr ist hier der Begriff Barmherzigkeit verbunden mit der Willkür dessen, der Almosen gibt oder sie verweigert.

Ist heute aber die Barmherzigkeit deshalb überflüssig, weil wir einen modernen Sozialstaat haben? Das Zentralkomitee der deutschen Katholiken hat in einer Erklärung verdeutlicht, dass Barmherzigkeit auch heute die Grundlage und Motivation für unsere Sozialgesetzgebung ist. Ohne Barmherzigkeit würden demzufolge „neue Notlagen überhaupt nicht entdeckt“ und unsere ganze Wahrnehmung von Not und Bedürftigkeit beruht darauf. Zitat: „Barmherzigkeit ist der Quellgrund der sozialen Gerechtigkeit.“ So kommt das christliche Denken und Erbe auch in unserem modernen Staat doch noch vor und so geht das christliche Abendland doch nicht unter sondern noch kräftig weiter!  

Und noch ein Bereich des Lebens fällt mir ein, dem Barmherzigkeit so gut tut: Der ganz direkte und persönliche Umgang miteinander. Mit Freunden, Kollegen, Familienmitgliedern, einfach mit den Mitmenschen. Immer wieder komme ich in Versuchung, hart und unbarmherzig zu sein – und wie viel leichter wird alles, wenn ich die Anderen einfach nur so behandle, wie ich selbst hoffe, behandelt zu werden.

Last but not least: Auch gegen mich selber barmherzig zu sein ist nicht immer selbstverständlich. Wenn ich mir gegenüber unbarmherzig bin, geht mir viel Leichtigkeit und Gelassenheit verloren – nur wer zu sich selbst barmherzig ist, kann es auch zu anderen sein

https://www.kirche-im-swr.de/?m=21618
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