SWR2 Wort zum Tag

SWR2 Wort zum Tag

Die biblischen Passionsgeschichten schildern Jesu letzte Tage in Jerusalem vor seiner Kreuzigung. Dabei widmen sich die Evangelisten mit großer Aufmerksamkeit kleinen Details der Beziehungen in der Jüngergemeinschaft. Unterschiedliche Charaktereigenschaften treten hervor – Stärken und Schwächen.

Zum Beispiel Mirjam, die Jesus in Bethanien mit einem teuren Nardenöl salbt. Ich stelle mir die Szene, wie sie beim Evangelisten Markus erzählt wird, vor: Sie öffnet das Fläschchen, gießt ein wenig Öl in ihre Handflächen, reibt die Hände aneinander und legt sie Jesus auf die Schläfen. Mit zärtlichen Gesten streicht sie das Öl auf seiner Haut aus: erst an der Stirn links und rechts, dann über Wangen und Kinn. Mit kleinen kreisenden Bewegungen und sanftem Druck fahren ihre Fingerspitzen über seine Haut. Das soll die Anspannung lösen und die Kopfschmerzen lindern.

Mirjam, die in der biblischen Überlieferung teilweise anonym bleibt und nur im Johannesevangelium namentlich genannt wird, gehört zu den starken Persönlichkeiten. Im Jüngerkreis haben sie über Jesu bevorstehende Hinrichtung gesprochen. Über all das, was ihn und seine Freunde in den nächsten Tagen erwartet. Über seinen Tod und die Zeit, die bleibt. Und nun salbt Mirjam Jesus mit einem teuren Nardenöl – vielleicht, um ihm etwas Gutes zu tun; vielleicht als Zeichen besonderer Wertschätzung.

Ich verstehe diese Geste als einen Liebesdienst, einen letzten möglicherweise. Ich höre Mirjam zu Jesus sagen: „Ich liebe dich. Wenn du gehen musst, dann sollst du wissen, dass meine Liebe mit dir geht – bis in den Tod.“

Mirjam weiß um die nur noch knappe Zeit, die ihnen bleibt, und die möchte sie nicht vergeuden. Andere unter den Jüngern sehen das anders: sie stören sich an der verschwenderischen Geste mit dem teuren Öl. Doch Mirjam ist nichts so wertvoll wie diese letzten gemeinsamen Tage.

Mirjam vollzieht hier einen Abschied der besonderen Art von jemandem, der gehen muss. Noch ist Zeit für das gemeinsame Gespräch, Zeit für Berührungen, die wohl tun und heilsam sind. Zeit für Gemeinschaft. Es gibt Augenblicke, in denen nichts kostbarer ist als dies. Was können wir noch tun, miteinander und füreinander im Angesicht des unmittelbar bevorstehenden Todes? Mirjam sagt: Wir können lieben – und sie zeigt es.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=21616
weiterlesen...