SWR2 Wort zum Tag

SWR2 Wort zum Tag

Wie peinlich Feigheit sein kann! Mitten in der Nacht rennt einer nackt durch die Stadt. Immer von Hauseingang zu Hauseingang, um sich sogleich verstecken zu können, falls irgendjemand um die Ecke kommt.

Die Passionserzählungen der biblischen Evangelien schildern Menschen in Extremsituationen. Im Angesicht des bevorstehenden Todes Jesu treten die Charakterzüge seiner Freunde plastisch hervor. Manche von ihnen stehen im Vordergrund, manche sind Nebenfiguren, nur am Rande erwähnt. Doch auch ihre lediglich angedeutete Geschichte ist herausfordernd.

Als Jesus im Garten Gethsemane verhaftet wird, ergreifen die Jünger die Flucht. Manche tauchen ganz unter, andere verfolgen die weiteren Geschehnisse aus dem Verborgenen, aus sicherer Distanz. An dieser Stelle lenkt der biblische Erzähler kurz das Augenmerk auf einen jungen namenlosen Mann aus der Gefolgschaft Jesu. Den Soldaten, die Jesus abführen, entwindet er sich knapp und auf abenteuerliche Weise: nur noch einen Zipfel seines Gewandes hätten die Wachen zu fassen bekommen, der junge Mann aber habe sich geschickt seines Gewands entledigt und sei nackt geflohen, heißt beim Evangelisten Markus.

Ich verstehe diese Randnotiz so, dass die Nacktheit des jungen Mannes für die Blöße steht, die er sich in dieser Nacht gegeben hat. Aus Angst, aus Feigheit ist er geflohen – und nun steht ihm diese Feigheit förmlich auf den Leib geschrieben.

Eine peinliche Situation! Doch wer kann ihn für seine Feigheit verurteilen? Ich jedenfalls nicht. Hätte ich in vergleichbarer Situation standgehalten? Courage gezeigt?

Auch Feigheit und zutiefst menschliche Fluchtreflexe stehen unter der Vergebung. Das Markusevangelium deutet es an: Am Ostermorgen sitzt ein junger Mann am Grab Jesu, gekleidet mit einem strahlend weißen Gewand. Er verkündet den Frauen, die zum Grab Jesu kommen, dass Jesus auferstanden ist. Derselbe junge Mann? Nun nicht mehr als ausbüchsender Feigling, sondern als mutiger Auferstehungszeuge? Nicht mehr peinlich nackt, sondern neu eingekleidet? Verwandelt und rehabilitiert. Ich lese es so.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=21615
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