SWR2 Wort zum Tag

SWR2 Wort zum Tag

In muslimischen Ländern ist es der Muezzin, der zum Morgengebet ruft. Gleich zu Beginn wird der ganze Tag   dem Schutz und Segen Gottes anvertraut.  Hierzulande sind es oft noch die Kirchenglocken, die  an einen  spirituellen Akzent erinnern zum Tagesbeginn. Selbst auf der Fahrt zur Arbeit liesse sich noch ein stilles Gebet sprechen, wenn es vorher nicht gelingen wollte. Besonders geeignet dafür können geprägte Gebete sein, allen voran  das Vaterunser, das Gebet Jesu. Wie Vollwertkost  kann es  zum täglichen Brot werden, um das es ja ausdrücklich bittet. Unverblümt  kommt  es zur Sache: „Abba, Vater“. Hereingerufen wird Gottes Gegenwart – und  die tut gut, wie hoffentlich  Vater und Mutter, wie Freund und Freundin. Alles, was dieser Tag bringt, gerät unter das Vorzeichen seiner zuvorkommenden Güte. Alles möge gut, sehr gut gelingen wie am Schöpfungsmorgen. In der Sprache Jesu lautet dieser Herzenswunsch:  „Es komme dein Reich, deine Weltherrschaft“.  Alles  soll zum göttlichen Reich werden, zum Be -Reich  göttlicher Gerechtigkeit. Überall soll Gottes universale Liebe das erste, und vor allem das letzte Wort haben.

Man braucht diese Bitten des Vaterunsers nur mit den jeweiligen Tagesnachrichten zusammen zu buchstabieren. Von Gottes Reich ist  da auf den ersten und zweiten Blick überhaupt keine Spur, es geht vielmehr menschlich, allzu menschlich zu wie seit Kain und Abel. Derzeit steht das geschundene Syrien  im Blickpunkt dieser mörderischen Welt, und wer könnte sagen, er sei nicht mit hineinverwickelt. Ach, wie schmerzlich fehlt noch, worum das Vaterunser bittet. Ja, das ganze Gebet wird zum  Aufschrei, und das ist gut so.  Beten heißt ja, den zahnwehartigen Schmerz  spüren und ausdrücken, wie sehr Gott noch fehlt.  Wie schrecklich wird vermisst, was mit Jesus damals begann. Immerhin ein grandioser Anfang war es, denn Jesus liess Gott zur Welt kommen. Aber es war erst ein Anfang. Wer das Vaterunser betet, reiht sich in die  Geschichte der Jesuswünsche ein, er gibt sich mit dem Status quo nicht zufrieden. Nicht zufällig steht ja am Ende des Gebetes die Bitte um  Widerstandskraft gegen das Böse und seine Faszination.

Zum Reich, zum Be-Reich göttlicher Güte, den das Vaterunser herbeiwünscht, gehört nicht zuletzt die Vergebung, die Bereitschaft zum Frieden  als , das Ende aller Gewalt. „Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben haben unseren Schuldigern“, heißt es betont bei Matthäus. Es ist etwas Kostbares, mit solchem Mut zur Selbstkritik und zum Verzeihen in den neuen Tag zu gehen. Mit dem Vaterunser lässt sich alles, was kommt und geschieht, wunderbar ins Gebet nehmen. Und Muezzin wie Kirchenglocke haben nicht umsonst gerufen. In diesem Sinn also einen guten, einen gesegneten Tag!

https://www.kirche-im-swr.de/?m=21553
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