SWR2 Wort zum Tag

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Was lesen wir, wenn wir ein Buch lesen? Neulich bei einer Veranstaltung mit dem bald 89 jährigen Martin Walser. Er trägt aus einem seiner Bücher vor. Das anschließende Gespräch ist lebendig. Manche im Publikum geben den Figuren des Romans eigene Deutungen, interpretieren den Gang des Geschehens. Mir erscheint das zuweilen überzogen und weit hergeholt. Der Autor sieht es gelassen. „Was Sie lesen“, sagt er, „ist Ihr Buch, nicht meines.“

Auf dem Heimweg mache ich mir klar, wie Recht er hat. Mit allem, was wir tun und denken, bleiben wir immer im Rahmen unserer eigenen Erfahrung. Meine Erfahrung steckt den Rahmen ab, innerhalb dessen ich Gehörtes, Gesehenes, Erlebtes einordne.
Wir sehen die Dinge nicht so wie sie sind, sondern wir sehen sie so, wie wir sind. Habe ich neulich gelesen.

Auch der christliche Glaube ist in ein Deutungsrahmen für das, was mir widerfährt. Er geht allerdings über meinen persönlichen Erfahrungshorizont weit hinaus. Er stellt meine Erfahrungen in den großen Zusammenhang von Gottes Schöpfung. Gibt ihnen einen weiten Horizont. Ich erlebe die Welt dann nicht mehr als nur auf mich bezogenen.  Sondern als großes Gewebe unterschiedlichster Lebensgeschichten, in dem auch meine eigene Geschichte ihren Platz hat.

Ich lese die Welt sozusagen mit dem Schlüssel, den mir die Bibel bietet. Dieser Schlüssel öffnet Fenster der Hoffnung, durch die ich hinaus schauen kann aus der Enge meiner Alltagswelt. Dass nicht der Stärkere das letzte Wort behält. Dass menschliche Gewalt am Ende nicht triumphiert. Dass Frieden und Gerechtigkeit eine Zukunft haben. Dass Respekt und Achtung voreinander wichtig sind. Und die Liebe, die bleibt, wenn alles vergeht.

Ja, wir sehen die Dinge nicht so wie sie sind, sondern wir sehen sie so, wie wir sind. Aber wie ich bin, das steht ja nicht ein für allemal fest! Ich kann mich verändern. Und ich ändere mich in dem Moment, wo ich über mich selbst hinausschaue. Wo ich die Welt lese im großen Zusammenhang der Schöpfung Gottes.

Das heißt Glauben. Weiter zu schauen als nur auf mich selbst. Und im Buch des Lebens nicht nur die Seite mit meinen eigenen Erfahrungen aufzublättern. Sondern ebenso die Seiten wahrzunehmen, auf denen die Erfahrungen anderer Menschen aufgezeichnet sind. Sie gelten lassen und ernst nehmen. Damit wir so zueinander finden.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=21550
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