SWR2 Wort zum Tag

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Jesus fragt einmal: „Was meint ihr? Wenn einer hundert Schafe hat, und es verirrt sich eines von ihnen, wird er dann nicht die neunundneunzig auf den Bergen zurücklassen und sich aufmachen, das verirrte zu suchen?“  

Was meinen Sie, was würden Sie tun? Das Evangelium stellt seine Hörer, bzw. Leser vor eine Frage, die uns auch heute keine Wahl lässt: Auch heute müssen wir unsere eigene, unsere persönliche Antwort geben; auf eine Frage, die Jesus im 18. Kapitel des Matthäusevangeliums seinen Jüngern stellt.

Was ist wichtiger: sich um das Wohl der vielen, der großen Zahl, der Mehrheit in einer Familie, in einem Volk zu sorgen – oder sich einem Einzelnen, wenigen Menschen, einer Minderheit mit aller Kraft zuzuwenden; um den Preis, die vielen anderen außer Acht zu lassen, sich selbst zu überlassen. Eben das tut ja der Hirte, der die 99 Tiere seiner Herde allein lässt, und sich auf die Suche nach dem einen verirrten oder verletzten Tier begibt, das verloren gegangen ist.

Was ist wichtiger? Das ist doch klar! Das Wohl der großen Mehrheit kann nicht aufs Spiel gesetzt werden, weil ein einzelnes Glied der Gemeinschaft in Not ist. Allerdings trifft eben auch zu, dass die Vielen in diesem Augenblick sicher sind. Sie sind gesund und nicht allein, sie sind in einer Situation sind, die keine besondere Aufmerksamkeit benötigt. Die weitere Frage ist also: wer braucht unsere Aufmerksamkeit? Die vielen in einer Gemeinschaft, die da sind, die allem Anschein nach gut zurechtkommen – oder einer aus dieser Gemeinschaft, der nicht mehr mithalten kann und in dem Sinn nicht mehr dabei ist? Jetzt ist die Antwort schwieriger.

Die Aufmerksamkeit für den Einzelnen hat immer auch etwas Anstößiges: Soviel Zeit, soviel Kraft, soviel Geld in das Wohl eines einzelnen investieren, der verletzt ist, der sich verirrt hat, der in Not ist, wie das eine von den hundert Schafen – das kann doch nicht sein! Das ist unverhältnismäßig; das kommt uns ungerecht vor. Und doch gibt es diese eigenartige Erfahrung: Die Aufmerksamkeit, die in die Zuwendung eines einzelnen Menschen investiert wird, kann sich auf die größere Gemeinschaft, zu der er gehört, so auswirken, dass für alle etwas überraschend Neues aufbricht.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=21493
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