SWR4 Abendgedanken

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Barmherzigkeit heißt auf Hebräisch: Mutterschoß. Das heißt: So richtig übersetzen kann man das Wort nicht von Deutsch in Hebräisch. Dazu sind die beiden Sprachen zu unterschiedlich. Aber das Wort Mutterschoß steht in der Bibel, im Altes Testament der Bibel, immer dort, wo in der deutschen Übersetzung heute Barmherzigkeit steht. Die hebräische Sprache liebt solche Bilder und Vergleiche. Sie sind häufig besonders treffend und bringen uns solche großen Wörter viel näher als Erklärungen das könnten. 

Um zu verstehen, was Barmherzigkeit ursprünglich bedeutet, muss ich mich also dem annähern, was genau mit Mutterschoß gemeint ist. Da habe ich als Mann naturgemäß Grenzen. Trotzdem weiß ich, was der Schoß der Mutter ist, weil ich selbst einmal so auf die Welt gekommen bin. Und weil ich als Kind auf dem Schoß meiner Mutter saß, zum Beispiel wenn wir „Hoppe, hoppe, Reiter“ gespielt haben. Ich habe zwar kein echtes Bild dazu mehr in meiner Erinnerung. Aber eine Ahnung davon habe ich - natürlicherweise - weil der Mutterschoß eine Urerfahrung ist. Ohne sie gibt es kein menschliches Leben. Sie steht für jeden am Anfang. Sie bleibt ein Leben lang Teil von uns.

Wenn ich das jetzt darauf übertrage, was Barmherzigkeit bedeuten könnte, dann wird dabei vor allem eines deutlich: Auch sie, die Barmherzigkeit, ist eine Urerfahrung. Ohne sie gibt es kein Leben, das die Bezeichnung „menschlich“ verdienen würde. Wer ein echter Mensch sein will, der muss nicht nur das Wort kennen, sondern es zu einem Teil von sich machen. Er muss barmherzig sein. Wenn ich im Bild der Bibel bleibe, bedeutet das dann soviel wie: Wer barmherzig ist, hilft zum Leben, zu einem guten Leben. Wer barmherzig ist, lässt andere an sich heran; er bietet an, bei ihm geborgen zu sein. Wer barmherzig ist, tut im Prinzip stets das, was eine gute Mutter auch tun würde. 

Papst Franziskus hat 2016 zum Jahr der Barmherzigkeit erklärt. Für ihn ist das die wesentliche und entscheidende Botschaft, für die der christliche Glaube stehen muss. Christen sind barmherzig. Und die Kirche orientiert sich bei allem, was sie tut, an diesem ersten und wichtigsten Merkmal. Sie handelt auch barmherzig an allen, die zu ihr kommen. Das hört sich harmlos an. Aber ich finde das wahrhaft revolutionär. Weil es den Blick auf das Wesentliche lenkt - auf das, was den Menschen zu dem macht, was Gott von jedem will, wenn er aus dem Schoß der Mutter kommt: Barmherzig zu sein. Was für ein Jahresmotto!

https://www.kirche-im-swr.de/?m=21479
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