SWR4 Abendgedanken

SWR4 Abendgedanken

Werbung im Kino ist oft öde. Diese nicht! Da ist eine weiße Wand. Nach und nach treten Menschen auf und stellen sich davor. Manche sieht man ganz, von Kopf bis Fuß. Andere werden als Brustbild gezeigt. Schnell wird mir klar: Es geht um Foto-Aufnahmen. Für einen Besetzungswettbewerb, auch Casting genannt. Die Teilnehmer müssen beweisen, ob sie geeignet sind für das, was auf den Bildern später gezeigt werden soll. Auf ihnen sollen zwei Personen kombiniert werden, die sich vorher noch nie gesehen haben.  Und das gibt dann Werbespots für eine soziale Aktion.  

Vierzig Frauen und Männer machen mit. Hin und wieder fragt der Fotograf einen, ob er Berührungsängste hat. Denn dass die Teilnehmer ein bisschen aufgeregt sind, sehe ich ihnen schon an. Aufgeregt und neugierig.

Dann geht’s weiter. Die ersten Paare begegnen sich vor der Kamera. Jetzt wird es erst richtig spannend. Eine junge Frau und ein junger Mann stehen nebeneinander, ungefähr gleich alt, beide sind lässig gekleidet. Vom Aussehen her zumindest passen sie gut zueinander. SIE fragt IHN: „Bist du normal?“ ER schaut etwas irritiert. SIE fragt weiter: „Oder hast du auch eine Behinderung? Ich kann dich ja nicht sehen...“ ER hat sichtlich Mühe seine Gesichtszüge im Griff zu halten.

In der nächsten Einstellung treffen sich zwei Sportbegeisterte. Der eine ist einen Meter neunzig groß und macht seit 40 Jahren Kung-Fu, der andere hat 2013 eine Goldmedaille im Speerwurf gewonnen, in Lyon bei den Paralympics; er ist kleinwüchsig. Als Zuschauer im Kino sehe ich das erst, als die Kamera sie von weiter weg zeigt. 

Die Paare lernen sich immer besser kennen. Was am Anfang ein bisschen unangenehm ist, weicht immer mehr dem Gefühl, dass man die Herausforderung gut meistert. Es stellt sich sichtlich eine Atmosphäre der Normalität ein. Die Gesichter entspannen sich, die Bewegungen werden natürlicher. Wo ein bisschen Scham entstanden ist, kehrt das alte Selbstbewusstsein zurück. Am deutlichsten wird das, als einige der Paare miteinander zu lachen beginnen. 

Und doch bleibt ein Gefühl der Nachdenklichkeit zurück. Bei mir, dem Betrachter, dem Zuschauer im Kino: Wie hätte ich reagiert in so einer Situation? Normal und behindert: Das schließt sich nicht aus. Die Grenzen verschwinden, wenn ich etwas mehr nachdenke, wenn ich gezwungen werde, etwas genauer hinzuschauen. Und da ist das Experiment mit den Werbespots regelrecht entlarvend. Und wohltuend.

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