SWR3 Gedanken

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Was brauchst du zum Leben? Eine Antwort auf diese Frage findet sich in einer Geschichte über den Dichter Rainer Maria Rilke: Als der sich einmal in Paris aufhielt, kam er mit einer französischen Begleiterin an einer alten Bettlerin vorbei. Die saß jeden Tag an diesem Platz und hielt ihre Hand auf. Wenn einer ihr ein Geldstück zusteckte, nahm sie es ohne jede Regung. Kein Blick, kein Dank. Rilke gab ihr nichts.

Die französische Begleiterin wollte wissen, warum. Daraufhin meinte Rilke: „Wir müssen ihrem Herzen schenken, nicht ihrer Hand.“ Wenige Tage später ging Rilke wieder an diesem Platz vorbei, dieses Mal mit einer weißen Rose. Die legte er der Bettlerin in die Hand. Zum ersten Mal hob sie ihren Kopf, schaute Rilke an, stand auf und ging humpelnd davon. Tagelang blieb sie verschwunden.

Erst nach einer Woche fand man die Bettlerin wieder an ihrem gewohnten Platz. Wieder hielt sie die Hand offen und bat stumm um ein Almosen. Aber wovon hat sie denn in der Zwischenzeit gelebt, fragte Rilkes Begleiterin? „Von der Rose“, war seine Antwort.

Für mich bringt Rilke damit eine Erfahrung auf den Punkt, die Sie vielleicht auch kennen. Zum Leben brauche ich vieles, was Geld kostet. Aber zum Leben brauche ich auch vieles, was für Geld nicht zu kaufen ist. Aufmerksamkeit, Wertschätzung, Liebe. All das wollte Rilke mit der Rose ausdrücken. Und die Bettlerin hat es verstanden.

Heute am Valentinstag wünsche ich Ihnen solche Geschenke wie Rilkes Rose. Zeichen der Aufmerksamkeit, Wertschätzung und Liebe. Ein liebevoll vorbereitetes Frühstück oder ein Kompliment, das Sie schon lange nicht mehr gehört haben, oder ein langer gemeinsamer Spaziergang. Zeichen der Liebe müssen schließlich nicht unbedingt in der Vase stehen.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=21448
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