SWR2 Wort zum Tag

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Was heißt Dankbarkeit? Ich  bin vor kurzem auf ein kleines Buch mit diesem Titel gestoßen: Dankbarkeit. Es enthält vier Essays von Oliver Sacks, der im August 2015 nach einem langen Krebsleiden verstorben ist. Der international bekannte Neurologe und Schriftsteller hat diese Betrachtungen kurz vor seinem Tod verfasst. In zahlreichen früheren Büchern hat Sacks von Patientinnen und Patienten erzählt, die als psychisch krank oder als geistig behindert gelten; und er hat es verstanden, ihren menschlichen Reichtum sichtbar zu machen und Verständnis für ihre innere Welt zu wecken. Seine grundlegende Sichtweise, nicht nur für das Schöne offen zu sein und es wertzuschätzen, sondern auch für die schwierigen Seiten des Lebens – diese Sichtweise fasst er in seinem letzten Buch in dem  Wort „Dankbarkeit“ zusammen.

Oliver Sacks schreibt darin als hoch betagter Mensch, er sei glücklich, dass er lebe. Bei besonders prächtigem Wetter rufe er manchmal: „Wie schön, dass ich nicht tot bin!“ Als Gegenbeispiel erzählt er von dem Schriftsteller Samuel Beckett. Dieser sei in einer ähnlich schönen Situation gefragt worden: „Sind Sie an einem solchen Tag nicht glücklich, dass Sie leben?“ Beckett habe geantwortet: „So weit würde ich nicht gehen.“

Doch, so weit will Sacks gehen: Er ist glücklich, dass er lebt. Er ist dankbar, dass er so viele Dinge erlebt hat – „wunderbare und schreckliche“, fügt er hinzu. Besonders dankbar ist er für den Dialog mit so vielen Menschen, denen er begegnet ist. Viele, so sagt er, „sind schon von mir gegangen, aber immer noch geliebt und wichtig in meinem Leben.“

Seine Jahre, auch die späten, seien voller Arbeit und Liebe gewesen, sagt Oliver Sacks. Aber seine Dankbarkeit ist kein ungetrübtes Glücksgefühl. Er bedauere etwa, viel Zeit verschwendet zu haben. Und er empfinde manchmal Wehmut bei dem Gedanken, „wie wohl alles gekommen wäre, wenn A und B und C anders gewesen wären. Was für ein Mensch wäre ich geworden? Wie hätte ich gelebt.“

Von der Religion habe er, ein Jude, sich schon früh entfernt, so erzählt Sacks.   Aber der Sabbat sei ihm im Alter zunehmend wichtig geworden: ein Innehalten, ein Raum, in dem die Zeit still steht und der frei macht für „die Frage, was es heißt, ein gutes Leben zu führen – und seinen inneren Frieden zu finden.“ Das Leben annehmen und bejahen können und seinen inneren Frieden finden – so verstehe ich Oliver Sacks –, das ist Dankbarkeit. 

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