SWR2 Wort zum Tag

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Meine Geige habe ich in den letzten Jahren eigentlich nur noch selten aus dem Kasten genommen. In den letzten Wochen allerdings hatte ich sie öfter in der Hand. Nicht immer, um auf ihr zu spielen. Manchmal auch einfach nur, um sie anzuschauen.

Grund dafür ist ein Buch, das ich zu Weihnachten bekommen habe – und das mich fasziniert: Der Geigenbaumeister Martin Schleske hat es geschrieben. Jeden Schritt der Entstehung einer Geige – von der Suche nach dem richtigen Holz bis zum Auftragen des Lacks – hat er geschildert und als Gleichnis gedeutet. 

Besonders beeindruckt hat mich die Passage, in der er beschreibt, wie er die Wölbung der Geige herausarbeitet. Die Arbeit an der Wölbung ist das Herzstück seiner Handwerkskunst. Dabei bekommt jedes Instrument seinen ganz eigenen Klang. Schleske, ein Meister seines Fachs, vergleicht das Holz, mit dem er arbeitet, mit Menschen. Jedes Holz ist anders. Nicht immer ist alles ebenmäßig gewachsen, was die Arbeit für den Geigenbauer schwieriger macht. An Stellen, wo der Baum dem Druck der Witterung besonders ausgesetzt war, wächst er auf besondere Weise. So wie bei Menschen, bei denen harte Zeiten im Leben Spuren in der Seele hinterlassen haben.

Das Geheimnis seiner Arbeit besteht für Schleske darin, mit dem Holz zu arbeiten – nicht gegen das Holz. Es zu formen und zu bearbeiten – aber nicht, um es in ein vorgegebenes Schema zu pressen. Der Geigenbauer weiß, dass die Geige nur klingen wird, wenn er die Eigenarten, die Faser des Holzes spürt und ihr gerecht wird. So wie auch Menschen nur ihren eigenen Klang finden, wenn sie nicht verbogen werden, nicht gegen ihre Anlagen, Talente und Eigenheiten arbeiten, sondern sich mit und in ihnen entwickeln können. 

Für Schleske, der aus dem christlichen Glauben heraus lebt und schreibt, geht das Gleichnis aber noch darüber hinaus. Für ihn ist der Geigenbauer, der bei der Arbeit an der Wölbung dem Holz in seiner Eigenart gerecht wird, ein Bild für Gott. Gott, so versteht er die Botschaft der Bibel, will durchaus, dass wir Menschen uns weiter entwickeln. Dass wir unsere Berufung finden, unseren eigenen Klang entfalten. Aber Gott will nicht, dass wir uns dafür in eine vorgegebene Form zwingen lassen, unsere Individualität aufgeben – und einem perfekten Idealbild entsprechen. Denn wir sind – sprichwörtlich – aus unterschiedlichem Holz geschnitzt.

Meine eigene Geige sieht übrigens auch nicht ganz glatt aus. Sie hat eine eigenwillige Farbe und einige abgenutzte Stellen. Aber ihr Klang ist stimmig – er gefällt mir. Und wenn ich mir Gott als Geigenbauer vorstelle, dann wäre ich ganz gerne so eine Geige. 

Literatur: Martin Schleske, Der Klang. Vom unerhörten Sinn des Lebens, München 102015.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=21402
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