Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

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In Mainz, wo ich lebe, geht Rosenmontag* nichts außer Rosenmontagsumzug. Da gibt’s auf den Straßen nur Clowns und Monster, Cowboys und Prinzessinnen. Da stehen die Büroleute am Fenster oder auf ihrem Balkon, werfen Konfetti runter oder fangen Bonbons auf mit einem dreifach donnernden Helau. Heute geht in Mainz nichts außer lustig. Normalerweise. Aber jetzt ist der Rosenmontagsumzug abgesagt. Wegen Sturmwarnung. Ob die Leute immer noch lustig sein können? Ich bin immer wieder erstaunt, wie viel das können, lustig sein auf Kommando. Für mich ist das immer ein Angang. Und dieses Jahr besonders. Weil das Jahr auch nicht wirklich lustig angefangen hat- wenn ich an die Ereignisse in Köln und Istanbul denke.

Und trotzdem- oder grade weil die Zeiten alles andere als lustig sind- geh ich heute zum Rosenmontagsumzug. Das heißt, eigentlich geh ich nicht zum Umzug. Der ist ja ausgefallen. Ich geh demonstrieren. Und zwar für alles, was ich an unserer Gesellschaft so liebe: das pulsierende Leben auf den Straßen und Plätzen. Dass wir dort miteinander singen und tanzen und uns jubelnd in die Arme fallen, auch wenn wir uns gar nicht so gut kennen. Und dass man auch mal über die Stränge schlagen darf. Jeder Jeck ist anders, sagen die Kölner -und zwar das ganze Jahr. Das ist Grund genug zu feiern, finde ich. Auch wenn man so wie ich nicht am Rosenmontag geboren ist und kein Fastnachtsgen geerbt hat.

Heute geh ich nicht zum Umzug, heut geh ich demonstrieren. Und zwar für das Gottvertrauen. Weil wir mit unserer offenen und bunten Gesellschaft natürlich auch verletzlich sind. In Mainz sind heute viele Polizisten unterwegs, um für Sicherheit zu sorgen. Aber eine absolute Sicherheit gibt es nicht. Deshalb demonstriere ich für Gottvertrauen und bitte Gott, dass er seine schützende Hand über Mainz hält. Und über Köln, Düsseldorf und all die Städte, in denen heute die Lebensfreude gefeiert wird.

Und das kommt dem ursprünglichen Sinn von Fastnacht auch sehr nah. Fastnacht war ja anfangs eine Protestbewegung. An Fastnacht darf die Hierarchie einer Gesellschaft mal auf den Kopf gestellt werden. Da sind die Letzten auch mal die Ersten und umgekehrt. In diesem Sinn wünsche Ihnen einen Tag voller Lebensfreude und wenn Sie mögen: viel Spaß beim Demonstrieren!

 

* Kursiv markierter Text wurde nach der Sendung eingefügt. Leider erreichte uns die Nachricht von der Absage des Rosenmontagsumzuges zu spät, um den Anstoß zu aktualisieren.

 

https://www.kirche-im-swr.de/?m=21371
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