SWR2 Wort zum Tag

SWR2 Wort zum Tag

An vielen Orten gibt es sie wieder: Die Vesperkirchen. Für ein paar Wochen in der kalten Jahreszeit werden aus Kirchen Orte, in denen arme Menschen nicht nur Nahrung und Hilfe, sondern auch: Freundlichkeit, Wärme, Musik und Unterhaltung und, so ungewöhnlich das klingt: Schönheit bekommen.

Schönheit? Fragen Sie vielleicht. Darüber war ich selbst überrascht. Eigentlich geht es doch um anderes in einer Vesperkirche: Für wenig Geld ein warmes Mittagessen. In einem Kirchenraum, an gedeckten Tischen, ausgegeben und serviert von Helferinnen und Helfern.

Das Besondere an den Vesperkirchen ist: Sie sind auf Zeit, und sie erreichen damit auch Menschen, die am Übergang zur Armut stehen, sie aber aus Scham verdecken und überspielen: alte Frauen und Männer mit kleinen Renten, Familien, die gerade so über die Runden kommen, Menschen, die sich ein gesellschaftliches oder kulturelles Leben nicht mehr leisten können. Diese Armut an den Rändern verfestigt sich in erschreckender Weise, das zeigt der kürzlich erschienene Armuts- und Reichtumsbericht der Landesregierung.

Ich war mit Oberstufenschülerinnen und –schülern einen Tag zum Mithelfen in der Vesperkirche. Der Tag hinter den Theken der Vesperkirche war für viele sehr eindrücklich: ein Tag, der ihnen eine bittere Realität vor Augen führte. Aber auch ein Tag, an dem sie erlebt haben: Ich werde gebraucht. Ich kann etwas für andere tun. Ich selbst habe so viel.

Eine Begegnung war auch für mich selbst sehr bewegend: Ich stand vor ein paar jüngeren Männern in der Warteschlange bei der Essensausgabe und unterhielt mich mit zwei Schülerinnen, als hinter mir einer der Männer mit einem Staunen in der Stimme sagte: „In der Vesperkirche gibt es die schönsten Frauen“. Mir war schon klar, wen er meinte. Ich merkte sofort: Das war keine Anmache und keine Zudringlichkeit, er wollte nichts von den jungen Frauen. In diesem Satz schwang vielmehr so etwas wie Dankbarkeit mit: Hier begegnete ihm, der sonst sicher um Aufmerksamkeit kämpfen musste, Schönheit und Freundlichkeit, zufällig, wie ein unerwartetes Geschenk.

Was mir ganz selbstverständlich und alltäglich vorkommt – ein Lächeln, freundliche Worte, unkomplizierte Gespräche – sind Momente, die einen nähren. Auch mich natürlich. Ich muss zugeben: Ich schätze das oft gar nicht, sondern nehme es als gegeben hin. Dabei gibt es so viele Momente von Schönheit und Freundlichkeit. Die Begegnung in der Vesperkirche hat mir das neu bewusst gemacht.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=21351
weiterlesen...