SWR4 Abendgedanken

SWR4 Abendgedanken

Ich halte am Beginn des Unterrichts eine Postkarte hoch. Die Schüler lesen. Und schütteln den Kopf. Einer sagt: „Dann gehe ich doch am besten gleich wieder nach Hause.“ Ich schmunzle. Der Schüler bleibt sitzen. Auf der Postkarte steht: „Keiner hat das Recht zu gehorchen.“ Ein Satz von Hannah Arendt. Das klingt einfach. Aber der Gedanke ist kompliziert. Ob mein Schüler auf Anhieb verstanden hat, was damit gemeint ist? Ich nämlich nicht. Ich musste erst eine Weile darüber nachdenken, bis ich kapiert hatte, wie weit dieser Gedanke reicht.

„Keiner hat das Recht zu gehorchen.“ Erwarten würden wir höchstens die folgende Aussage: „Keiner hat die Pflicht zu gehorchen.“ Das wäre schon provokant genug. Jedenfalls dann, wenn einer so erzogen worden ist wie ich: Du sollst gehorchen. Das gehört sich. Wenn ein Lehrer etwas zu dir sagt, dann folgst du artig. Sonst kriegst du Probleme. Genau dem aber unterwirft sich der Gedanke von Hannah Arendt so ganz und gar nicht.  „Keiner hat das Recht zu gehorchen.“ Wenn ich den Satz umdrehe, wird seine Bedeutung präziser: Jeder hat das Recht, nicht zu gehorchen. Und damit könnte auch gemeint sein, dass jeder tun und lassen kann, was er will.

Ich kann mir aber nicht vorstellen, dass Hannah Arendt das meint. Für ein gutes Zusammenleben, wären damit die Probleme vorprogrammiert. Der Schüler soll nicht nach Hause gehen, wenn es ihm gerade in den Kram passt. Gleichzeitig soll er wissen: Er darf das, wenn er gute Gründe dafür hat; auch wenn die Ordnung es verbietet.

Es beruht im Idealfall auf Gegenseitigkeit, ob einer gehorcht – oder nicht. Nur weil eine Pflicht es vorschreibt, sollte niemand folgen - weder beim Militär noch in der Schule noch sonstwo. Was so viel bedeutet wie: Ich selbst muss von dem überzeugt sein, was ich tue, gerade wenn ein anderer mir eine Anweisung gibt. Ich bin kein blinder Befehlsempfänger. Soviel zur Pflicht.

Wenn Hannah Arendt aber sagt, keiner hat das Recht zu gehorchen, geht sie damit einen entscheidenden Schritt weiter. Sie verlangt viel von dem, der sich ihren Satz zu eigen macht. Sie will, dass er den großen Zusammenhang sieht, und diesen kritisch prüft. Keiner soll es sich bequem machen. Keiner soll bloß an sich selber denken!

Mein Schüler hätte nach Hause gehen können. Dann hätte er ignoriert, dass das Folgen für die anderen, für den gesamten Unterricht hat; er hätte bloß an sich gedacht. Ich glaube, genau das wollte Hanna Arendt verhindern, solchen verborgenen Egoismus. Da ist sie auf einmal ganz nah bei Jesus. Und das gefällt mir.

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