SWR4 Abendgedanken

SWR4 Abendgedanken

Krieg und Vertreibung kenne ich nur aus den Erzählungen anderer. Meine Eltern haben mir von meinem Großvater erzählt. Er war ein gebürtiger Ostpreuße aus Allenstein. 1945, als die Rote Armee auf Ostpreußen vorrückte, hat er sich mit seiner Frau und den 10 Kindern auf die Flucht Richtung Westen begeben. Viel Schlimmes haben sie unterwegs erlebt. Am Ende haben sie alle überlebt, bis auf den Vater. Der hatte sich auf der Suche nach einer sicheren Bleibe für seine Familie von ihr für einige Tage getrennt. Seine Spuren verlieren sich in einem russischen Gefangenenlager. Dort ist er verschollen. Niemand kennt sein Grab. Keiner weiß, was er in seiner letzten Stunde gedacht, gefühlt und gesagt hat. Eines aber ist sicher: er hat seine Familie bis zum Schluss geliebt. Ich kenne seinen Namen. Hinter seinem Namen verbirgt sich eine einzigartige Lebensgeschichte mit Ängsten und Sorgen, Hoffnungen und Wünschen.      
Auch hinter den Namen, die wir heutzutage hören: Jussuf und Rasin, Alima und Saida. Das sind Namen von Männern und Frauen aus Syrien und dem Irak. Auch sie haben einen langen Weg mit schrecklichen Erlebnissen hinter sich. Sie suchen Hilfe bei uns und eine Zukunft für ihre Kinder. Ich bin Enkel eines Flüchtlings. Meiner Familie wurde damals nach dem Krieg geholfen. Für mich ist es nicht nur Christenpflicht, sondern meinem Großvater gegenüber eine innere Verpflichtung, mich für diese Flüchtlinge einzusetzen. Das ist mein Erbe.
So widerspreche ich Menschen, wenn sie unfreundlich, ja verachtend über Flüchtlinge reden. Mein Großvater war vorausgegangen, um ein Quartier für seine Familie zu finden. So wie viele der jungen Männer, die in unser Land kommen. Sie sind bestimmt froh, wenn ihnen jemand hilft.
In der Bibel heißt es: „Bringt den Durstigen Wasser…bietet Brot den Flüchtlingen (Jesaja 21, 14). Die Menschen in der Bibel haben selber erlebt, was es heißt, Flüchtlinge in einem fremden Land zu sein. Darum haben sie sich immer neu verpflichtet, für die Flüchtlinge zu sorgen, die in ihr Land gekommen sind. Das will ich auch tun. Ich bin sicher: Mein Großvater hätte es genauso getan.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=21137
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