SWR4 Abendgedanken

SWR4 Abendgedanken

Es gibt eine Menge guter Geschichten und zum Nachdenken anregende Texte aus Bibel oder Dichtung, die einen durch die Advents- und Weihnachtszeit begleiten können. Für mich war es in diesem Jahr der Brief eines jungen Franzosen, der in der schrecklichen Attentatsnacht des 13.November in Paris seine Frau verloren hatte. Antoine Leiris hatte diesen offenen Brief kurz nach den Attentaten an die ISIS-Mörder gerichtet. Mich haben diese Zeilen bis heute tief bewegt. Unter der Überschrift „Ihr bekommt meinen Hass nicht“, war dort zu lesen:

„Freitagabend habt ihr das Leben eines außerordentlichen Wesens geraubt, das der Liebe meines Lebens, der Mutter meines Kindes, aber ihr bekommt meinen Hass nicht. Ich weiß nicht, wer ihr seid und ich will es nicht wissen, ihr seid tote Seelen. Wenn dieser Gott, für den ihr blind tötet, uns nach seinem Bild geschaffen hat, dann muss jede Kugel, die meine Frau getroffen hat, eine Wunde in sein Herz gerissen haben. Nein, ich werde euch nicht das Geschenk machen, euch zu hassen. Auch wenn ihr euch sehr darum bemüht habt; auf den Hass mit Wut zu antworten würde bedeuten, derselben Ignoranz nachzugeben, die euch zu dem gemacht hat, was ihr seid. Ihr wollt, dass ich Angst habe, dass ich meine Mitbürger mit misstrauischem Blick betrachte, dass ich meine Freiheit der Sicherheit opfere. Verloren. Der Spieler ist noch im Spiel.

Ich habe sie heute morgen gesehen. Endlich, nach Nächten und Tagen des Wartens. Sie war genauso schön wie am Freitagabend, als sie ausging, genauso schön wie damals, als ich mich vor mehr als zwölf Jahren hoffnungslos in sie verliebte. Selbstverständlich frisst mich der Kummer auf, diesen kleinen Sieg gestehe ich euch zu, aber er wird von kurzer Dauer sein. Ich weiß, dass sie uns jeden Tag begleiten wird und dass wir uns in jenem Paradies der freien Seelen wiedersehen werden, zu dem ihr niemals Zutritt erhalten werdet. Wir sind zwei, mein Sohn und ich, aber wir sind stärker als alle Armeen dieser Erde. Ich will euch jetzt keine Zeit mehr opfern, ich muss mich um Melvil kümmern, der gerade von seinem Mittagsschlaf aufwacht. Er ist gerade mal 17 Monate alt; er wird seinen Brei essen wie jeden Tag, dann werden wir gemeinsam spielen wie jeden Tag und sein ganzes Leben wird dieser kleine Junge euch beleidigen, indem er glücklich und frei ist. Denn nein, auch seinen Hass werdet ihr nicht bekommen." Soweit der Brief. Er erzählt von der inneren Größe eines Menschen und vom Frieden, den wir gerade an Weihnachten gefeiert haben. In Hoffnung selbst von ihm erfüllt zu werden. Trotz allem.

 

 

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