SWR2 Wort zum Tag

SWR2 Wort zum Tag

Heute ist der zweite Tag im Neuen Jahr. Die Neujahrsansprachen sind gehalten, die guten Wünsche einander mitgeteilt, die Vorsätze für’s neue Jahr gefasst. Ich mache keine mehr. Nicht aus Lethargie oder weil ich wahrscheinlich doch an ihnen scheitern werde sondern weil Sich-Ändern, Sich-Korrigieren, Neu-Anfangen für mich an kein Datum gebunden ist. Die Herausforderung gilt das ganz Jahr hindurch. Trotzdem habe ich einen Wunsch, nicht nur für mich sondern für jede und jeden: kein Misstrauen! Nach den schlimmen Erfahrungen des letzten Jahres, den Terrorwellen, den neuen Unsicherheiten im Alltag ist Misstrauen ein verständliches Gefühl. Wem kann ich trauen, wie vorsichtig muss ich sein, welche Sicherheiten brauche ich oder meine Familie. Der bewegendste Text des letzten Jahres war der offene Brief des französischen Radiojournalisten und jungen Familienvaters Antoine Leiris, der in der schrecklichen Pariser Terrornacht am 13. November seine Frau verloren hatte. Er schreibt ihn an die ISIS Terroristen, die Mörder seiner Frau. „Nein, ich werde euch nicht das Geschenk machen, euch zu hassen. Auch wenn ihr euch sehr darum bemüht habt; auf den Hass mit Wut zu antworten würde bedeuten, derselben Ignoranz nachzugeben, die euch zu dem gemacht hat, was ihr seid. Ihr wollt, dass ich Angst habe, dass ich meine Mitbürger mit misstrauischem Blick betrachte, dass ich meine Freiheit der Sicherheit opfere. Verloren…“ Zitat Ende. Ein bewegendes Zeugnis gegen den Grundton Misstrauen, der im Begriff ist unsere Gesellschaft zu erfüllen. Geschrieben von einem tief verwundeten Menschen, der allen Grund hätte genau das zu sein: mehr als nur misstrauisch. Seit Jahren begleitet mich ein Text der israelischen Dichterin Eva Avi Yonah. Sie bringt es in ihrer poetischen Sprache auf den Punkt und warnt vor der Gefahr sich dem Misstrauen zu ergeben. Das Gedicht heißt: „Was ich lernen sollte.“: „Über die erfrorene Wespe am Fensterbrett denke ich nach. Die ich zwischen zwei Finger nahm -Kinderfinger - und neben den Milchkaffee legte. Wie sie sich regte, ihre Beinchen, ihre Fühler auftauten bis sie mich stach. Und meine Mutter sagte:„Das soll dir eine Lehre sein.“ Und nun denke ich schon an die siebzig Jahr: Was sollte ich lernen? Dass man weder edel noch hilfreich sein solle? Oder auch, dass Misstrauen zu allem und jedem erstes Gebot sei? Dass alle Mitgeschöpfe auf Erden mich verfolgen, mir feindlich gesinnt sind und es daher sicherer ist gefühllos durchs Leben zu gehen, hart und gepanzert?

Mit dieser Frage endet der Text und provoziert nur eine mögliche Antwort:

Nein. Und noch mal nein. dem Misstrauen entgegensteuern. Trotz allem. Mut zu vertrauen. Trotz allem. Das wünsche ich uns allen für das noch junge neue Jahr.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=21129
weiterlesen...