SWR2 Wort zum Tag

SWR2 Wort zum Tag

Einmal am Tag in der Kapelle eine Kerze anzünden für all die Lieben: Mann und Bruder, Mutter und Schwiegermutter, Freundin und Freund. Das habe ich mir angewöhnt. Einmal am Tag recht herzlich an sie denken, etwa mit den Worten von Robert Walser im Hinterkopf: „Dass du das bist, was du bist, bezaubert mich, rührt, ergreift und bewegt mich – und macht mich denken, dass es auf der Welt, die an unerfreulichen Erscheinungen reich genug ist, hier und da Dinge gibt, die den, der sie sieht, glücklich, fröhlich und heiter machen.“ Ein wunderbarer, wenn auch etwas langer Satz von Robert Walser. Als ich diese Worte gelesen habe, habe ich sofort gedacht: genau so ist es: dass all diese Menschen sind, was sie sind, was sie für mich sind, dafür bin ich unendlich dankbar, das bewegt mich. Die Welt ist momentan wahrhaftig reich an unerfreulichen Erscheinungen – aber wenn ich an meine Lieben denke, macht mich das glücklich, fröhlich und heiter.
Robert Walser, der Dichter aus der Schweiz, musste eine nicht unbeträchtliche Zeit seines Lebens in einer Nervenheilanstalt verbringen. So erstaunt es wenig, dass sich diese anrührenden Worte in  seiner kurzen „Rede an einen Knopf“ finden. Sie haben sich jetzt nicht verhört, die Rede heißt tatsächlich so: „Rede an einen Knopf.“ Als sich der Dichter einmal sein kaputtes Knopfloch wieder zusammen nähen muss, fällt ihm der kleine Knopf auf, der das Hemd Tag für Tag zusammen hält. Still und bescheiden verrichtet der Knopf seinen Dienst, drängt sich nicht in den Vordergrund bleibt dort lange Zeit, wo man ihn hingenäht hat. Er scheint sich gar nichts aus sich selber zu machen, ist „ganz nur Lebensaufgabe“, „hingegeben an stille Pflichterfüllung“.
Gewöhnlich beachtet man den Mitmenschen genauso viel oder wenig wie einen Hemdknopf, besonders wenn sie so sind: zurückhaltend, freundlich, hilfsbereit und immer da, wenn man sie braucht. Man hat sich daran gewöhnt, dass sie auch noch unsre wildesten Bewegungen mitmachen, wie ein geduldiger Hemdknopf, und zu uns halten. Aber wie wenig selbstverständlich es ist, einen Menschen zu haben, auf den wir uns verlassen können – das merkt man oft erst viel zu spät.  Freunde, Brüder, Schwestern, Mütter, Väter  und ein freundlicher, hilfsbereiter Nachbar– die sind jeden Tag ein Grund, glücklich und dankbar zu sein. Und in Gedanken an sie eine Kerze anzuzünden, jetzt in der Adventszeit.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=21054
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