SWR2 Wort zum Tag

SWR2 Wort zum Tag

Zwischen Weihnachtsmarkt und Fußgängerzone steht eine Gruppe von Kindern, die auf ihren Blockflöten Advents- und Weihnachtslieder spielen. Ich erkenne „O Heiland, reiß die Himmel auf“ und denke über diesen seltsam schwermütigen Text nach: „Wo bleibst du Trost der ganzen Welt“? Da steht nicht die Vorfreude auf Weihnachten im Vordergrund, sondern die bange Frage: „Wo bist du eigentlich – Gott?“
Der Liedtext geht zurück auf Verse aus dem alttestamentlichen Buch Jesaja: „Ach, dass du den Himmel zerrissest und führest herab …“ Der Prophet spricht hier von einer Beziehung zwischen Mensch und Gott, die gestört ist. Gott fehlt, er hat sich verborgen, er wird vermisst – das ist der Grundtenor. Für Jesaja ist dies jedoch nur die erste Diagnose. Im Weiteren erinnert er sich daran, dass die Beziehung zwischen Mensch und Gott einmal anders temperiert war: heißer, stürmischer, inniger.
Dass es zwischenzeitlich so kühl geworden ist zwischen Gott und Mensch, hängt nach Jesajas Sicht damit zusammen, dass der Mensch Gott vergessen hat, seinen Weg, seine Rechnung ohne ihn macht. Gott hat sich erübrigt – doch nun, wo er weg ist, wird er mit einem Male schmerzlich vermisst.
In die anklagenden Töne gegenüber einem verborgenen, abwesenden Gott mischen sich dabei Misstöne menschlicher Selbstanklage: „Wir sind geworden wie solche, über die du niemals herrschtest, wie Leute, über die dein Name niemals genannt wurde.“ Oft ist die Anklage des anderen – psychologisch gesehen – nur der Versuch, die eigene Schuld zu verbergen. Jesaja scheint diese Psychologie der Beziehungen gut zu kennen. Deshalb beklagt er nicht nur die Abwesenheit Gottes, sondern bekennt schonungslos, entwaffnend: „Wir haben dich aus dem Blick verloren … vergessen.“
Doch dann nimmt Jesajas Klage- und Selbstanklagepsalm eine Wendung, denn mit der Erinnerung stellt sich echte Sehnsucht ein. „Du bist doch unser Vater“, sagt Jesaja. „Das ist von alters her dein Name.“ Damit erweckt Jesaja die Erinnerung an bessere gemeinsame Tage – jedenfalls ist das seine Absicht.
Und zugleich eröffnet sich mir ein neues Thema für meine Adventszeit: die bewusste Umkehr zu Gott. Gott will sich finden lassen – vielleicht in einem Gottesdienst, in einer geöffneten Kirche, in einer Abendandacht zwischen Weihnachtsmarkt und Fußgängerzone.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=21012
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