SWR2 Wort zum Tag

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„Advent“ bedeutet Vorbereitung und Einstimmung auf Weihnachten. Doch worin könnte die „Einstimmung auf Weihnachten“ bestehen außer im Geschenke-Einkaufen und Grußkarten-Schreiben? Vielleicht geben alte adventliche Verse aus dem biblischen Jesajabuch eine Anregung: „So schau nun vom Himmel und sieh herab von deiner heiligen, herrlichen Wohnung, Gott. … Kehr zurück!“
Aufs erste Hören klingt das wenig nach Weihnachten und wenig nach adventlicher Vorfreude. Es hört sich vielmehr wie Klage an; auch Selbstanklage ist dabei. Ich finde, Jesaja besitzt ein erstaunlich feines Gespür dafür, dass etwas in der Beziehung zwischen Mensch und Gott nicht stimmt. Zwischen Mensch und Gott ist etwas fremd geworden. Die Beziehung ist nicht mehr so, wie sie anfangs war. Jesaja stellt fest: die Menschen seiner Zeit interessieren sich nicht mehr für Gott. Sie gehen ihre Lebenswege ohne ihn, haben ihn vergessen.
Doch zu einer Beziehung gehören immer zwei. Und deshalb besteht noch eine Chance. Wenn die Menschen schon nicht mehr Gott sehen, sondern nur noch sich selbst – so Jesaja –, dann bleibt doch immer noch die Möglichkeit, dass Gott auf seine Menschen sieht. Und das ist etwas Entscheidendes, ja geradezu Typisches für Gott: das von ihm Angesehen-Werden. Hier ist es Gott, der sieht, und ich bin der von ihm Angesehene.
Die Optik Gottes beginnt mit dem Angesehen-Werden. Um das Ansehen bei Gott geht es also – und Jesaja weiß, dass es darum nicht zum Besten steht. Dennoch oder gerade deswegen beginnt er seinen Psalm mit der Aufforderung an Gott, die – genau genommen – eine Bewusstmachung ist: „Schau herab!“ Jesaja weiß, dass menschliche Lebensperspektiven davon abhängen, das Ansehen bei Gott nicht zu verlieren. Tödlich wäre es, wenn Gott seine Menschen übersieht, sie vergisst. Im Ansehen Gottes steckt für Jesaja nämlich Gottes Zuwendung, „seine Gnade“. Wenn Gott auf die Menschen schaut, tut er dies in Liebe und Geduld. Gottes Ansehen ist eine Kraft, eine Art Lebensenergie. Es taucht das menschliche Dasein in ein mildes Licht und fördert das Leben – so wie die spärliche, aber dennoch lebensnotwendige Sonne in diesen kurzen, winterlichen, adventlichen Tagen.
Einstimmung auf Weihnachten kann heißen, zu Gott zu sagen: „Ja, schau auf mich, mit all deiner Liebe.“

 

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