SWR2 Wort zum Tag

SWR2 Wort zum Tag

(Jes 11,1-10) 

Advent ist die Zeit der Utopien. Eine Utopie beschreibt etwas, das jetzt noch nicht möglich ist, was vielleicht niemals möglich ist – nach menschlichem Ermessen. Und doch können Utopien eine Kraft entfalten, die die Welt verändert.   

Von solchen Utopien sprechen auch einige Bibeltexte. Ihr Autor ist der Prophet Jesaja. Er trat in einer Zeit auf, die für das Volk Israel katastrophal war. Sie wurden aus ihrer Heimat deportiert und mussten im Exil leben. In der Fremde, in Babylon.  Mit völlig ungewisser Zukunft.  

Diesen Menschen stellt der Prophet eine Vision vor Augen, die absolut nichts mit dem zu tun hat, was sie selbst erleben. Er spricht von  einer Zukunft, in der die Armen gerecht behandelt und die Gewalttäter entmachtet werden. Wo gibt es denn so etwas? 

Aber noch viel mehr: Er entwirft Bilder von einem unvorstellbaren Frieden. Er sagt: „Dann wohnt der Wolf beim Lamm […], Kuh und Bärin freunden sich an, ihre Jungen liegen bei einander. Der Löwe frisst Stroh wie das Rind. Der Säugling spielt vor dem Versteck der Natter, das Kind steckt die Hand in die Höhle der Schlange.“ Das könnte man ja alles noch als Ausdruck der urmenschlichen Sehnsucht nach einem Paradies deuten. Aber was dann kommt, ist völlig unvorstellbar: „Man tut nichts Böses mehr und begeht kein Verbrechen […], denn das Land ist erfüllt von der Erkenntnis der Herrn, so wie das Meer mit Wasser gefüllt ist.“ 

Mich provozieren solche biblischen Texte. Soll ich sie als trügerische Idylle abtun und zur Tagesordnung übergehen? Und die Tagesordnung ist leider alles andere als idyllisch. „Wir haben keine Hoffnung mehr“, das habe ich von vielen Menschen in den Flüchtlingscamps im Nordirak oder in Jordanien gehört – von Menschen, die vor dem Terror geflohen sind und sich jetzt verzweifelt fragen, was aus ihnen wird. Friede ist für sie in weite Ferne gerückt. 

Aber diese biblischen Visionen sind Kernbestand des Vertrauens auf den kommenden Gott. Ich nehme das ernst, trotz allem, was dagegen spricht. Diese Visionen geben dem scheinbar Unmöglichen Raum – und das macht mir Mut, an meinem Platz das Mögliche zu tun.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=20999
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