Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

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In der ersten Lebenshälfte lernt man die Selbstkontrolle. In der zweiten Lebenshälfte lernt man, diese Kontrolle wieder abzugeben.

Daran habe ich gedacht- bei unserem letzten Klassentreffen. Wir sind ja jetzt so um die fünfzig.
Früher hatten wir – 17 jährige Mädchen- mit unseren gnadenlos kurzen Röcken beim Klassenausflug unseren alten Klassenlehrer an den Rand eines Nervenzusammenbruchs gebracht. Wir wollten unsere Wirkung auf Männer testen, er wollte sie verhindern.
Wenn wir uns früher trafen, ging es immer darum: wer hat den tollsten Mann, die steilste Karriere, die nettesten Kinder.
Wenn wir uns heute treffen, haben wir viel zu lachen.
Karin- ich nenne sie mal so- hat keinen bedeutenden Mann geheiratet. Dafür ist sie heute noch glücklich mit dem Mann zusammen, der sie kurz vor ihrem Abitur geschwängert hat. Eine Katastrophe- hieß es damals. Es wurde ihr Glück! Ellen, die Stille, war in jeder Hinsicht ein graues Mäuschen. Heute hat sie einen Doktor gemacht und einen Doktor geheiratet und jettet um die Welt.
Silvia schließlich, unsere einstige Klassensprecherin, Star und Mittelpunkt jeder Party, kann nach zwei Ehen nichts Männliches mehr um sich haben außer ihrem Kater.
Was ist aus unseren Träumen von einst geworden? Was haben wir draus gemacht?

Was damals wie ein Freifahrschein zum Glück aussah, hat sich über die Jahre oft ins Gegenteil verkehrt. Was damals scheinbar eine Katastrophe war, wurde zum Glück.
Träume zu haben war schon wichtig. Aber mindestens genauso wichtig war, dass wir die auch wieder hinter uns lassen konnten. Dass wir über das Gefühl, wir hätten versagt, hinwegkommen konnten.
Im Gespräch miteinander haben wir gemerkt: wir haben viel weniger in der Hand, was aus uns wird, als wir das immer geglaubt haben.

Das Schöne daran ist aber: Hat man seine Träume erst einmal losgelassen, dann bekommt man für das Leben wieder einen ganz neuen Blick. Es erscheint viel leichter, weniger drohend. Es bekommt seine ursprüngliche Schönheit wieder.

Tja, und nächstes Jahr werden wir noch mal eine Oldie- Klassenfahrt nach Spanien unternehmen. Und unser alter Klassenlehrer, Gott hab ihn selig, wird vielleicht vom Himmel herunterschauen und seinen Spaß an uns haben.
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