SWR2 Wort zum Tag

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„Allen Leuten recht getan, ist eine Kunst, die niemand kann.“ Das ist wohl wahr.
Woher soll man aber auch wissen, was richtig und was falsch ist, wenn man die Folgen und Tragweite seiner Entscheidungen gar nicht richtig abschätzen kann? Wenn von vorneherein klar ist: Bei dieser Entscheidung wird man den einen gerecht, aber die Bedürfnisse der anderen bleiben außen vor?
Aber soll man deshalb aufhören, nach Gerechtigkeit zu streben? Das kann es ja wohl nicht sein. Was gerecht ist, definieren in unseren Rechtssystemen Juristen, die sich mit komplizierten Abwägungen auskennen. Im Privatleben hilft das nichts, da muss das Zusammenspiel von Eltern und Kindern, Nachbarn und Freunden so funktionieren, dass jeder bekommt, was er und sie braucht: die einen mehr Hilfe als die anderen, die einen mehr Aufmerksamkeit als die anderen. Nicht jeder bekommt dann immer die gleiche Portion. Obwohl es vielleicht objektiv gerecht wäre.
In meiner Sorge um gerechte Entscheidungen tröstet mich ein Rat des Propheten Hosea. Damals ging es um die Auseinandersetzung konkurrierender Volksgruppen. Jede Gruppe hatte ihr Recht verlangt und versucht, sich durchzusetzen. Der Rat des Propheten hieß „„Säet Gerechtigkeit und erntet nach dem Maße der Liebe!“ (Hos.10,12). Wie ein unerwarteter Lichtstrahl fällt dieser Satz in die verfahrene Situation.
„Säet Gerechtigkeit“ - Das kann heißen: Faire Arbeitsbedingungen, gute Lernvoraussetzungen, ein Dach über dem Kopf und etwas zu essen, Respekt vor dem, wer jemand ist und was ihn prägt, Zuflucht in Verfolgung und Gefahr. Denn jeder Mensch hat ein Recht auf ein Leben in Würde und Auskommen. Jeder. Ich natürlich. Aber die anderen auch. Da kann das Recht einen Grund legen: „Säet Gerechtigkeit.“
Und dann geht es ganz überraschend weiter: „Erntet mit dem Maß der Liebe.“ Mit Liebe ernten - damals hieß das zum Beispiel: Etwas übrig lassen für die Armen, die das Recht der Nachlese haben. Auch wenn meine Ernte dann vielleicht nicht ganz so groß ausfällt. - Wo man mit Liebe erntet, weiß man, dass nicht jede Frucht vollkommen ist. Dass es Situationen gibt, in denen nicht Ernten, sondern gnädiges und barmherziges Vorübergehen und So-Sein-Lassen, wie es ist, das Richtige ist.
Gerechtigkeit braucht Liebe. Gottes Gerechtigkeit ist eine, die barmherzig und gnädig und von großer Güte ist. Eine, die mit dem Maß der Liebe erntet. Das brauchen wir. Das Reformationsfest morgen erinnert daran.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=20820
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