SWR2 Wort zum Tag

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Die Kraft der Poesie, schreibt der Schriftsteller Peter Handke, besteht darin, die Welt mit jeder Geschichte immer wieder neu anfangen zu lassen. „Wenn ich jemandem Mitgefühl, soziale Aufmerksamkeit, Freundlichkeit und Geduld beibringen will,“ fährt er fort, „befremde ich ihn nicht mit der abendländischen Logik, sondern versuche ihm zu erzählen, wie es mir selber einmal ähnlich erging, das heißt, ich versuche, mich zu erinnern.“
Ich glaube auch, nur so kann ich mich jemand Anderen verständlich machen. Indem ich mich erinnere an eigene Erfahrungen. Indem ich davon erzähle, welchem Mitgefühl ich begegnet bin, als es mir schlecht ging. Wer gab auf mich Acht, als ich eine angstvolle Situation zu durchstehen hatte? Wer oder was hat mir damals geholfen? Welches freundliche Wort? Welche Mut machende Geschichte?
Solche Erinnerungen helfen mir auch heute in Situationen weiter, wo ich alleine nicht weiter wüsste. Dabei müssen es nicht einmal die eigenen Geschichten und Erinnerungen sein, aus denen ich schöpfe. Ich finde ein großes Potential an Mut machenden Geschichten in der Bibel.
Zum Beispiel die, wo der verängstigte Petrus in seinen Ängsten zu versinken droht. Erzählt wird, wie Petrus nichts anderes mehr vor sich sieht als riesige Wellen, die sich vor ihm auftürmen. Er sieht einfach nur noch schwarz. Und es scheint so, als wollten ihn seine Ängste im nächsten Augenblick unter sich begraben.
Bis Jesus sich ihm zuwendet und seine Hand ergreift. Jesus nimmt ihn wahr. Er gibt ihm die Sicherheit, dass der Boden unter ihm trägt. Schenkt ihm Vertrauen.
Das macht Petrus stark. So dass er weiterleben kann. Stärker und mutiger als zuvor.
Solche Geschichten tragen eine Erfahrung weiter, die tiefer liegt als das, was Peter Handke die abendländische Logik nennt. Sie erzählen von elementaren Erfahrungen, die Menschen über die Unterschiede von Herkunft, Bildung und Sprache hinweg verbinden können. 
Sie sprechen eine Sprache, die alle erreicht, die sich nicht haben abstumpfen lassen gegen menschliches Unglück. Oder um es mit Peter Handke zu sagen: Mitgefühl, Aufmerksamkeit, Freundlichkeit und Geduld sind eine Sprache, die von allen verstanden wird. Sie besitzt die Kraft der Poesie, die Welt immer wieder neu anfangen zu lassen.
Ich möchte versuchen, jeden Tag ein paar neue Worte dieser Sprache zu lernen.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=20805
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