Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

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„Wissen Sie eigentlich, wie alt ich bin?“
Der alte Mann am Tisch neben mir beugt sich zu mir rüber. Ich will es eigentlich nicht wissen, aber er fährt fort: „Ich bin 88 Jahre alt!“
Er setzt sich gerade hin, als ob sein Alter eine Leistung wäre.
Ich habe mir gerade mein Frühstück geholt. Im Hotel. Ich bin dienstlich unterwegs.
Eigentlich will ich jetzt nur meine Ruhe. Morgens bin ich nicht sehr gesprächig.
Aber der Mann lässt nicht locker.
„Ich bin schon vier Wochen in diesem Hotel und mache Urlaub. Morgen holt mich mein Sohn ab und dann fahren wir in die Berge.“
Ich nicke einfach und merke, er braucht nur jemanden zum Reden. Richtig antworten brauche ich nicht. Ich esse also mein Frühstück und der Mann erzählt mir dabei von seinem Leben.
Alt werden ist auch nichts für Feiglinge, fällt mir ein. Ist ein Buch von Joachim Fuchsberger. Ich habe es nicht gelesen, aber der Titel gefällt mir.
Alt werden. Ist das eine Leistung?
In der Bibel heißt es: „Das Leben des Menschen dauert 70 Jahre, wenn’s hochkommt 80.“
88 Jahre ist für die Bibel eine unheimlich lange Zeit. So lange zu leben ist ein echtes Geschenk. Der Mann erzählt mittlerweile von seinen jungen Jahren im Krieg. Das ist richtig beeindruckend.
Sicher, das Leben ist ein Geschenk Gottes. Aber man muss es auspacken und was draus machen. Ich verstehe schon, dass der Mann ein bisschen stolz darauf ist, wie er seine Zeit gemeistert hat.
„Mit Gottes Hilfe!“ sagt er und hält kurz inne. Er deutet nach oben. „Das habe ich alles mit Gottes Hilfe geschafft. Dafür bin ich dankbar.“
Er sitzt immer noch gerade und stolz auf seinem Stuhl.
Ich wende mich zu ihm hin. Alt werden kein Verdienst, finde ich. Aber wenn jemand schwierige Zeiten durchgemacht hat und trotzdem dankbar auf sein Leben zurückschauen kann, dann muss ich sagen:
„Respekt!“

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