Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

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„Was hast du da auf der Hand?“ Meine kleine Tochter sieht was auf meiner Haut. „Das ist ein Altersfleck!“, sage ich. „Bist du schon so alt?“
Ich knirsche mit den Zähnen. Ja, so alt bin ich schon, denke ich. Dass Kinder aber auch so unbarmherzig sind.
Meine Freundin Renata hat das alles mit angehört. Sie sitzt gerade mit einer Tasse Kaffee bei uns in der Küche. Sie wendet sich an meine Tochter:
„Weißt du, das mit den Flecken auf der Haut, das ist gar nicht schlimm. Das ist wie bei den Trauben im Herbst. Wenn die reif werden, dann bekommen sie auch manchmal so kleine Punkte auf der Schale. Dann sind sie ganz süß. Und süße Trauben magst du doch?“
Meine Tochter nickt und ist zufrieden. Ich eher nicht. Ich möchte keine süße Traube sein. Ich fühle mich alt.
Renata sieht mich an: „Ich weiß gar nicht, warum du als Pfarrer so einen Aufstand um das Alter machst. Du weißt doch selbst: Das Ende ist ein neuer Anfang. Darum geht es doch bei euch, oder?“
Sie hat Recht. Ich muss mir das auch immer wieder sagen. Ich glaube das auch wirklich. Denn immerhin gibt es nur einen Menschen, der vom Tod wieder zurückgekommen ist. Jesus Christus. Und der hat uns gezeigt, dass nach dem Tod noch was kommt
Das ist wirklich der einzige Trost, wenn ich mir meine Altersflecken anschaue. Dass mit dem irdischen Leben nicht alles aus ist, sondern dass noch was kommt. Ich möchte nämlich keine reife Traube oder ein alter Wein sein. Ich möchte die reifen Trauben essen und den alten Wein trinken.
Ich sehe Renata an: „Ich glaube daran. Aber Glauben ist nicht Wissen. Ein Restzweifel bleibt da immer. Meine Restsüße sozusagen“
Renata tröstet mich: „Das ist menschlich. Zweifel gehört zum Leben. Sonst wäre es ja gar kein Glaube. Guck mich an, mir geht es genauso. Zumindest bei den Trauben!“
Ich bin irritiert: „Wie meinst du das?“
„Vielleicht sind die Flecken auf den Trauben auch bloß getrockneter Regen!“

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