SWR3 Gedanken

SWR3 Gedanken

Wenn ich nicht mehr lange zu leben hätte, was würde ich tun?  Einmal mit dem Fallschirm aus dem Flugzeug springen? Oder: bei einer Aufführung von Verdis Requiem ganz nah am Orchester sitzen? Oder auf der Chinesischen Mauer tanzen?
Ich weiß es nicht. Ich fühle mich zu lebensmittig, um an meinen Tod zu denken.
Thea dagegen weiß, dass ihr nicht mehr viel Zeit bleibt. Sie lebt seit 10 Tagen im Hospiz. Ich frage sie, was sie unbedingt nochmal machen würde. Ob sie unerfüllte Wünsche hat, an die sie sehnsüchtig denkt.
„Nein“, sagt sie nach etwas Nachdenken. „Klar gibt es vieles, das auch noch schön gewesen wäre zu erleben. Aber jetzt so vom Ende meines Lebens her gesehen, sind es nicht die Erlebnisse, die für mich wichtig waren.“
Nicht?, frage ich. Ich kenne die wesentlichen Stationen ihres Lebenslaufs. Sie hat als Kind noch den Krieg erlebt, musste fliehen, einen Neuanfang wagen und hat dabei viel Ablehnung und Entbehrung erlebt.
Thea lächelt. „Die Erlebnisse sind eigentlich egal. Einen Birnbaum hinauf zu klettern kann so aufregend sein wie den Mount Everest zu besteigen – es dauert nur nicht so lange und ist nicht so gefährlich. Du selbst bist es, die einem Ereignis seine Bedeutung gibt. Die ist wichtig. Davon leben wir.“
Ich überlege, welche Erlebnisse in meinem Leben bis heute Bedeutung haben.
Damals mit 18 die Stunden in der Abendsonne am Meer – dieses Gefühl von Freiheit und Wärme umgeben zu sein, egal was kommt – das kann ich heute noch abrufen. Es beruhigt mich sofort.  Oder die erste Vorlesung im ersten Studiensemester. Dieses Gefühl lernen zu können, was ich will. Das treibt mich heute noch manchmal an. Und dann fällt mir auf, dass meine Zeit mit Thea gerade auch dazu gehört.
„Falls wir uns nicht mehr sehen“, sagt Thea zum Abschied zu mir, „denk dran: jede Stunde kann so wertvoll sein wie ein Jahr. Von einer Stunde mit Bedeutung kann man viele Jahre leben.“
„Ja“, sage ich, „danke. Ich glaube das war jetzt so eine Stunde.“

https://www.kirche-im-swr.de/?m=20681
weiterlesen...