SWR3 Gedanken

SWR3 Gedanken

Auf den ersten Blick ist sie nicht zu sehen. Nur, wer mir aufmerksam ins Gesicht schaut, kann sie erkennen – die dreiteilige Narbe an meiner linken Schläfe.
Ich habe sie mir im Frühling bei einem eigentlich harmlosen Unfall zugezogen. Inzwischen hat sie sich zu einer zarten Blitzform verwachsen und stört mich selten.
Nur wenn ich in den Spiegel schaue, leuchtet sie mich an. Ich denke dann manchmal an Kain. Kain hat auch eine Narbe im Gesicht gehabt, Die Bibel erzählt ganz am Anfang, dass er aus Neid seinen Bruder Abel erschlagen hat. Darauf hat Gott ihn mit einer Narbe- dem so genannten Kainsmal versehen. Das sollte jedem zeigen: Dieser Mensch steht unter Gottes Schutz. Niemand darf ihm ungestraft  Rache etwas antun.
Ich habe niemandem erschlagen – aber ich werde manchmal wütend, wenn ich mich übergangen fühle. Wenn ohne erkennbaren Grund bestimmte Leute vorgezogen werden, oder wenn andere mich ins Leere laufen lassen, beruflich und privat. Manchmal greife ich dann andere an, mit Worten. Wie verletzend ich sein kann, wird mir oft erst hinterher bewusst. Dann bin ich froh, wenn mir andere das nicht nachtragen oder zurückschlagen.
Jetzt trage ich also auch so eine Art Kainsmal an mir!
Keine Ahnung, wie das beim biblischen Kain ausgesehen hat, aber ich kann mir vorstellen, wie es sich angefühlt hat: man schaut in den Spiegel - und hat sofort den eigenen Fehler, die eigene Schuld vor Augen. Und gleichzeitig leuchtet mir darin auch entgegen, dass Gott mich schützen will.
Ich mag versehrt sein, beschädigt, aber das Ja zu mir ist größer als all das. Darauf vertraue ich. Gott selbst will schützen, was da an Gutem in mir ist. Ich werde nicht auf meine Fehler festgenagelt, ich kann jeden Tag gut beginnen. An all das erinnert mich meine Narbe.
Kain ist übrigens in die Welt gezogen, hat eine Familie gegründet und eine Stadt gebaut. Womöglich bin ich ihm also schon mal begegnet und hört gerade zu?! Na dann: herzliche Grüße!

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