SWR2 Wort zum Tag

SWR2 Wort zum Tag

25 Jahre deutsche Einheit – mit den Feiern in Berlin rundet sich heute ab, was vor knapp einem Jahr begann: Schon vergangenes Jahr, im November, konnten 25 Jahre Mauerfall gefeiert werden. Ich erinnere mich an die Bilder im Fernsehen: Menschen, die Jahre und Jahrzehnte durch Mauern getrennt waren, konnten sich ungehindert begegnen. Sie lagen sich in den Armen, hatten Tränen in den Augen. – Die politische Einheit folgte dem Mauerfall nach und eröffnete vielen Menschen in Ost- und Westdeutschland neue Lebensperspektiven. Ein Grund zum Feiern! Allemal!
Doch nicht allen hat dieses neue Kapitel deutscher Geschichte das erhoffte Lebensglück gebracht. Ich kenne Menschen, die mir von der Schwierigkeit erzählen, im Westen Fuß zu fassen; von einer Fremdheit, die sie hier heute noch empfinden; vom Verlust der Heimat und von der Sehnsucht nach ihr. Und so ganz zusammengewachsen sind die beiden Hälften Deutschlands auch nach 25 Jahren noch nicht – politisch nicht, wirtschaftlich nicht und in der Mentalität auch nicht.
Manchmal lässt Glück lange auf sich warten. Manchmal scheint es erst am Lebensende auf oder in der nächsten Generation. Das gilt auch für den Segen Gottes. Die Bibel spricht ja weniger von Glück und mehr von Segen. In einer alttestamentlichen Erzählung wird von solch spätem Segen erzählt:
Ihre Hauptperson ist Naomi. Einst musste sie mit ihrem Mann und ihren beiden Söhnen aus der Heimat in Israel aufbrechen. Anhaltende Hungersnöte hatten vielen Kleinbauern wie ihnen damals die Lebensgrundlage unter den Füßen weggezogen.
Naomis Familie findet Aufnahme im Nachbarland Moab. Dort gründen sie eine neue Existenz. Die Söhne heiraten moabitische Frauen. Doch dann stirbt zunächst der Mann und hernach sterben auch noch die beiden Söhne. Wieder in der Katastrophe! Und wieder macht sich Naomi auf den Weg, diesmal zurück in ihre alte Heimat, gemeinsam mit einer ihrer Schwiegertöchter – Rut.
Als Naomi von ihren ehemaligen Nachbarinnen empfangen wird, bricht alle Bitterkeit über ihr Los aus ihr heraus: „Nennt mich Mara, die Bittere, denn Gott hat mir Bitteres getan.“ Doch dann wendet sich das Blatt: Die beiden Witwen Naomi und Rut finden herzliche Aufnahme im Haus eines Verwandten. Rut heiratet ein zweites Mal und bekommt einen Sohn.
Es ist ein langer, steiniger und auch sehr gewundener Weg, der hier auf wenigen Seiten erzählt wird. Jahre gehen ins Land. Mehr als 25. Ein ganzes Leben zieht vorbei. Am Ende der Erzählung hält Naomi das Kind ihrer einstigen Schwiegertochter Rut wie einen leiblichen Enkel auf dem Schoß. Naomi wird seine Pflegerin – heißt es in der Bibel. Sie nährt es, sie zieht es auf.
Dieses Schlussbild der biblischen Erzählung vom späten Segen berührt mich zutiefst: Über viel Leid und Not wendet und wendet sich das Schicksal der Naomi hin und her, bis sie am Ende, ganz am Ende, im Glück angekommen ist. Die Bibel kann das – wie gesagt – auch als „Segen“ bezeichnen.
Manchmal lässt solcher Segen lange auf sich warten und die Bitterkeit scheint alle Hoffnung auf einen glücklichen Ausgang zu vertreiben. Doch der Schluss der biblischen Erzählung von Naomi und Rut macht Mut, die Hoffnung wider alles Erleben nicht aufzugeben. Und er lehrt, die bitter gewordenen Augen für das zarte Glück, den leisen Segen Gottes, offen zu halten. Vielleicht leuchtet solcher Segen ja erst im Gesicht der nächsten oder übernächsten Generation auf.
Naomi nährt ihren Stiefenkel wie ihr leibliches Kind. Er ist das lebendige Zeichen ihres Glücks und ihres Segens und versöhnt Naomi am Ende mit ihrem Schicksal – auch wenn das lange auf sich warten ließ.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=20620
weiterlesen...