Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

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„Aufmerksamkeit für das Alltägliche“ heißt das Buch mit Texten der Philosophin Simone Weil, das ich im Urlaub dabei hatte. Ich glaube, wenn wir eine gemeinsame Jugend gehabt hätten, uns vielleicht an der Uni kennen gelernt hätten, wir wären wohl nie Freunde geworden. Mit einer Frau wie Simone Weil wäre ich nicht klar gekommen. Zu fremd, zu düster, zu radikal wäre sie mir gewesen. So hat es ihr nicht genügt, sich in der Gewerkschaft für die Arbeiter zu engagieren, sie hat auch im Winter ihre Wohnung nicht geheizt, weil viele Arbeiter das ja auch nicht konnten. Im Frankreich der 30er Jahre hat man kein Verständnis für die studierte Philosophin und Historikerin. Sie ist einfach zu anders, um als Lehrerin tragbar zu sein und fliegt aus der Schule. Sie jobbt in der Fabrik, meldet sich als Freiwillige in den spanischen Bürgerkrieg, will 1942 mit dem Fallschirm in Frankreich abspringen um im Untergrund zu kämpfen. Die meisten ihrer geplanten Aktionen gehen schief. Weil sie meint, dass im Krieg so viele Menschen hungern müssen, isst sie kaum noch etwas. Im August 1943 stirbt sie an Tuberkulose und Unterernährung, gerade mal 34 Jahre alt. Man könnte jetzt sagen, ein völlig wirres, verkorkstes, gescheitertes Leben. Das Einzige, was geklappt hat, war, dass sie sich systematisch in einen frühen Tod getrieben hat. Aber sie hinterlässt ein absolut faszinierendes literarisches Werk. Und ihre Gedankenwelt beschäftigt Menschen bis heute. Sie ist Philosophin, beschäftigt sich mit unterschiedlichen Religionen, ist aber fasziniert vom Leiden und Sterben Jesu am Kreuz. Ob sie darin auch ihren Weg erkennt? Selbstentäußerung bis zum Letzten? Radikal sein wie ein Franz von Assisi, den man dafür heilig gesprochen hat? Ich muss ehrlich zugeben: ich könnte so nicht leben. Mein Weg ist ein anderer, nicht so düster, eher ein fröhlicher. Trotzdem bleiben Menschen wie Simone Weil wie ein Stachel im Fleisch, eine Mahnung, wie Christ sein auch aussehen kann: radikal und kompromisslos. Heinrich Böll schreibt über sie:
„Die Autorin liegt mir auf der Seele wie eine Prophetin; es ist der Literat in mir, der Scheu vor ihr hat; es ist der potentielle Christ in mir, der sie bewundert, der in mir verborgene Sozialist, der in ihr eine zweite Rosa Luxemburg ahnt….. Ich habe Angst vor ihrer Strenge, …, Angst vor den Konsequenzen, die sie mir auferlegen würde, wenn ich ihr wirklich nahe käme.“

https://www.kirche-im-swr.de/?m=20612
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