SWR2 Wort zum Tag

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Du solltest dankbar sein! Ein typischer Elternsatz. Neulich habe ich das mal wieder zu meiner Tochter gesagt. Dabei weiß ich eigentlich: So ein Appell nützt gar nichts. Dankbarkeit kann man nicht einfordern. Sie ist da – oder auch nicht. Aber woher kann sie kommen?
In den Ferien habe ich das Buch „Marie des Brebis“ gelesen. Es ist die Lebensgeschichte einer Hirtin im Süden Frankreichs im vergangenen Jahrhundert. Ihre Geschichte hat mich sehr berührt. Marie hatte weiß Gott kein einfaches Leben. Als Findelkind wächst sie bei einfachen Bauern auf. Sie verliert zwei ihrer Kinder. Als sie endlich ihre leibliche Mutter wiederfindet, liegt diese im Sterben. Ihren Mann verliert Marie schon mit Mitte fünfzig.
Doch am Ende Ihres Lebens denkt sie trotz allem voller Dankbarkeit zurück: An die Schönheit der Natur, an fröhliche Feste. An ihren Mann, den sie sehr geliebt hat. An die innige Zeit mit ihren Kindern, als sie klein waren. An ihre fünf Enkelkinder. „Ich weiß, dass ich großes Glück hatte“, sagt sie.
Sicher, Marie stammt aus einer anderen Welt, einer anderen Zeit. Trotzdem habe ich überlegt, was ich von ihr lernen kann. Was ist das Geheimnis einer solchen Dankbarkeit?
Das erste, was ich gefunden habe: Marie ist bescheiden. Sie braucht nicht viel, um zufrieden zu sein. Als alte Frau, gelähmt von einem Schlaganfall, sagt sie: „Im Ganzen habe ich alles, was ich brauche, sogar die Sonne. Sie sauge ich an den schönen Tagen in mich auf, hier an diesem Platz.“
Das zweite: Marie ist achtsam. Von Klein auf lernt sie, die Natur um sich herum genau wahrzunehmen. Sie erzählt vom herrlichen Geschmack von frisch gebackenem Brot, von der Wärme und dem Geruch der Schafe. Als durch den Schlaganfall ihr Lebensradius enger wird, wird ihre Achtsamkeit nicht geringer. Im Gegenteil: „Ich streichle einen Baum, ich prüfe seine Borke, ihre Härte und ihre Sanftheit, ich lerne ihn besser kennen. Ich nehme die kleinen Duftschwaden besser war, auf die ich vorher nicht geachtet hatte. Jede Kleinigkeit bedeutet mir etwas.“
Das dritte, was Marie dankbar macht, ist ihr Glaube an Gott. Er gibt ihr einen anderen Blick auf die Welt. Nichts ist für sie selbstverständlich, sie sieht das Wunderbare in der Schöpfung: „Ich erinnere mich […], so erzählt sie, „an einen Winter, in dem der Reif auf Bäumen, Häusern und Straßen lag. […] Ich blieb […] im Garten, um die von Gottes Hand so fein ziselierten Eissterne zu betrachten. Da spürte ich Ihn, nah bei mir, im unendlich Kleinen wie im Großen gegenwärtig.“
Bescheidenheit, Achtsamkeit, Gottvertrauen – das sind Haltungen, die ich mir nicht einfach aneignen kann. Aber die Geschichte von Marie des Brebis hat mich wieder ermutigt, sie zu suchen – damit ich das Schöne in meinem Leben neu entdecken kann.

Zitate aus: Christian Signol, Marie des Brebis. Der reiche Klang des einfachen Lebens, Stuttgart 142014.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=20549
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