SWR4 Abendgedanken

SWR4 Abendgedanken

Wenn ich zur Zeit in den Gärten die Rosen sehe, die bald ausgeblüht haben, muss ich an ein Gedicht denken. Es heißt „Carpe diem“ und stammt von Walt Whitman. Der Titel heißt übersetzt: Pflücke den Tag. „Carpe diem“ ist ein Begriff, den viele Philosophen verwenden, wenn sie sagen wollen, dass man seine Zeit ausnutzen soll. In dem Gedicht wird das Bild des Pflückens auf Rosen umgemünzt: Da heißt es: „Pflückt die Rosenknospen, solange es geht. Die Zeit sehr schnell Euch enteilt. Dieselbe Blume, die heute noch steht, ist morgen dem Tode geweiht.“

Oft sehe ich an so einem Rosenstock Knospe, volle Blüte und welke Blüte nebeneinander. Dabei wird mir bewusst, wie kostbar der Moment des Blühens ist, aber auch, dass dieses Blühen ein Ende hat. Was heute blüht, ist morgen vorbei. Vielleicht macht das sogar die Kostbarkeit der Rosenblüte aus, dass sie mir in jedem Zustand zeigt, was das Leben ist: Anfang, Blüte und Vergehen. Für jede Blüte ein einmaliger Vorgang und deshalb so kostbar.

Wenn der Dichter mich also auffordert, die Rosenknospen zu pflücken solange es noch geht, meint er damit ja, dass ich das Leben auskoste, so gut es geht und solange es geht.

Gerade, weil Dein Leben einmalig ist und weil Du sterben wirst: Mach etwas daraus! Das klingt vielleicht für viele nach Karrieremachen und Reichwerden. Aber ich glaube, hier sind jene Seiten des Lebens gemeint, die ich nicht verpassen soll, wenn ich in der Tretmühle des Alltags stecke. Ich soll gerade das Jetzt, den Augenblick, als einen Moment der Blüte entdecken, die ich pflücken soll, bevor sie vorbei ist. Dabei geht es schon auch darum, dass ich den Moment wahrnehme und vielleicht auch genieße. Auch dann, wenn‘s nichts zum Genießen gibt. Wenn es nämlich nur um Genusszeit ginge, wäre das zu wenig. Dann müsste ich ja von Urlaub zu Urlaub leben, von Wochenende zu Wochenende und von Feierabend zu Feierabend. Ich glaube, es geht auch um die Zeit dazwischen. Wenn ich im Alltag  von Termin zu Termin hetze und vergesse, dass es mich dabei noch gibt. Dann ist es vielleicht schon viel, wenn ich es schaffe, den täglichen Trott für einen kurzen Moment zu unterbrechen und den Augenblick wahrzunehmen. 

Und in den Zeiten des Genießens mach ich es so, dass ich das, was ich im Jetzt erlebe, in meiner Erinnerung abspeichre: so, dass ich später noch davon zehren kann, als Bild in meinem Gedächtnis. Und manchmal hole ich es beim Einschlafen heraus, betrachte es und zehre davon.

 

Walt Whiteman: Carpe diem 

Pflückt Rosenknospen, solange es geht.

Die Zeit sehr schnell Euch enteilt.

Dieselbe Blume, die heute noch steht,

ist morgen dem Tode geweiht.

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