SWR4 Abendgedanken

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In vielen Städten gibt es am Stadtrand Siedlungen, die aus den 50er und 60er Jahren stammen. Bisher bin ich meistens an ihnen vorbeigefahren, ohne sie zu beachten. Neulich ist mir aber bewusst geworden, dass sie einen interessanten Schatz bieten. Einen Schatz an Erfahrung.

Diese Stadtteile sind nach 1945, also nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden, weil sich hier oft Heimatvertriebene angesiedelt haben. Die Leute sind hier längst daheim. Ihren Kindern und Enkeln merkt man oft nicht mehr an, dass ihre Wurzeln eigentlich woanders liegen. Vielleicht wenn es eine Hochzeit gibt oder an Weihnachten wird in diesen Familien noch ein Brauch aus ihrer Heimat gepflegt, aus Schlesien zum Beispiel. Aber das ist schon alles, woran man es heute noch merken kann.

Ich habe mir überlegt, dass diese Generation sicher viel erzählen könnte, wie es sich anfühlt, wenn man fliehen muss. Wenn es ums nackte Überleben geht: Man gibt sein Zuhause auf und lässt vieles zurück, was einem wichtig ist: das Familienporzellan, Bücher, Spielsachen, die vielleicht schon von einer Generation auf die nächste übergegangen sind. Und natürlich auch Menschen, die man gern hat, Freunde und Vertraute. Und der Platz, wo man die Nachbarn getroffen hat, wo die Grundschule stand und so weiter. Und dann heißt es an einem neuen Ort wieder bei null anzufangen. Unter Umständen eine neue Sprache lernen, einen Arbeitsplatz suchen, Freunde finden – bis man sich endlich wieder ein bisschen zuhause fühlt. Zumindest so, dass der neue Wohnort für die eigenen Kinder zur Heimat werden kann. Ich habe das selbst nicht erlebt und ich bedaure, dass ich viel zu selten mit Leuten darüber gesprochen habe, die das erlebt haben. Heute ist das ein Thema, das mir auf den Nägeln brennt, weil es zur Geschichte meines Heimatlands gehört. Gerade als Deutscher kann ich wissen, was es heißt, als Flüchtling eine neue Heimat zu suchen. Wir Deutschen haben diesen Erfahrungsschatz. Wir sind Experten dafür, wie man ankommt, wie man andere aufnimmt und integriert. Wir haben es in den letzten 60 Jahren so gut geschafft. Das kann ich an diesen Stadtrandsiedlungen sehen. Warum soll es dann nicht möglich sein für die Menschen, die heute bei uns Zuflucht suchen?

https://www.kirche-im-swr.de/?m=20543
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