SWR4 Abendgedanken

SWR4 Abendgedanken

Wie kriegt man ein ganzes Dorf dazu, einig zu sein? Oder eine ganze Region? Womöglich ein Land? Dass alle Menschen darin fühlen, sie gehören zu einem großen Ganzen?--
Mit einem Gebet. Das jedenfalls war die brillante Idee von Karl dem Großen. Vor ungefähr 1200 Jahren ging sein Reich von den Pyrenäen bis zur Donau, von Italien bis zur Nordsee. Um da einen Zusammenhalt zu schaffen, ging Karl zunächst mit militärischen Mitteln vor. Aber dann begann er mit einer großen Neuregelung der kirchlichen und gesellschaftlichen Ordnung. Einheitlich für sein ganzes Reich hat Karl zum Beispiel festgelegt, wann Weihnachten und Ostern zu feiern sind und welche Heiligen verehrt werden sollen. Karl der Große ordnete an, dass alle Christen das Vaterunser auswendig können sollten, das Gebet, das Jesus selbst seinen Nachfolgern hinterlassen hat. Alle Menschen im ganzen Reich waren damals Christen, wenn auch vermutlich nicht alle freiwillig sondern weil der Fürst das so bestimmte. Und die sollten nun mindestens dreimal am Tag das Vaterunser beten: morgens, mittags, abends. Dabei half eine damals neue Erfindung: Glocken aus Bronze. Die wurden dreimal am Tag geläutet und haben die Leute erinnert: Jetzt ist Zeit für das Gebet, das alle zusammen beten.
Eine Idee, von der wir noch heute einen Nutzen haben. Denn fast alle Christinnen und Christen können das Vaterunser auswendig:
In jedem Gottesdienst in der Kirche sprechen es die Leute zusammen. Und auch bei einer Beerdigung auf dem Friedhof oder bei einer Trauung können hunderte Menschen, die einander vorher vielleicht nie begegnet sind, dieses Gebet miteinander sprechen. Ich finde das immer einen großartigen Moment. Und ich denke mir: Genau genommen verbindet das Vaterunser in dem Moment nicht nur die Leute, die es jetzt zusammen sprechen, sondern irgendwie schafft es auch eine Verbindung zu all denen, die es vor mir gebetet haben.
Die Glocken vieler Kirchen läuten auch heute noch dreimal am Tag und laden dazu ein, ein Vaterunser zu beten. Ich denke mir, das wissen viele Leute gar nicht mehr. Aber das Vaterunser als gemeinsames Gebet -- das funktioniert noch immer. Und jedes Mal, wenn ich es mit anderen zusammen bete, fühle ich, wie das Gebet eine großartige Verbindung schafft: Alle sind Teil eines großen Ganzen.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=20481
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