SWR2 Wort zum Tag

SWR2 Wort zum Tag

Ist die Unruhe unser Schicksal? Der Kieler Philosoph Ralf Konersmann hat darüber in einem, wie ich finde, brillianten Buch mit dem Titel  „Die Unruhe der Welt“ nachgedacht. Über eine Zivilisation, die nichts mehr „auf sich beruhen“ lässt, keine Ziele mehr kennt, sondern nur noch Übergänge.
„Bildungsziele kommen und gehen“, schreibt Konersmann, „Geschlechterrollen wechseln, Familienbilder wanken, und Religionen, einst auf Fels gebaut, definieren sich neu, als wäre das gar nichts. Verwaltungen und Behörden, eben noch der Inbegriff der Schwerfälligkeit, sind in eine Endlosschleife aus Reform und Kontrolle eingetreten.“
Konersmann folgt der Spur der Unruhe bis in die frühe Welt des Mythos. Noch die biblische Schöpfungsgeschichte kennt die Unruhe nur als Verhängnis. Nachdem erst Adam und Eva aus der Ruhe des Paradieses vertrieben wurden, ist sehr bald von einer zweiten, weitaus folgenreicheren Vertreibung die Rede. Der Brudermörder Kain wird zur Strafe für seine Bluttat mit dem göttlichen Urteil belegt: „Unstet und flüchtig sollst du sein auf Erden.“
So deckt der Mythos gleich zu Beginn die Wahrheit über den Menschen auf: der Mensch als das aus der Ruhe gefallene Wesen. Und Gott?
Auch er ist aus der Position des Ruhenden, die er am siebenten Schöpfungstag noch einnimmt, herausgetreten. Jetzt heißt es in einem Psalm:
„Der dich behütet, schläft nicht, der Hüter Israels schläft und schlummert nicht.“ Nachdem der Mensch durch Kains Tat aus der Ruhe gefallen ist, ist offensichtlich auch Gott beunruhigt. Der beunruhigte Gott aber wacht über den ruhelosen Menschen, so wie es beunruhigte Eltern tun, wenn ihre Kinder noch nicht zu Hause sind.
Und wie würde die Antwort lauten auf die Frage, die Konersmann am Ende seines Buches stellt: nach der Ruhe in modernen Zeiten, der Gestalt einer sozusagen „postparadiesischen“ Ruhe?
Ich bin der Meinung,  dass die Unruhe ja nicht unangefochten regiert. Solange jedenfalls nicht, wie Menschen Sabbat und Sonntag feiern. Solange es Kirchen und Klöster zum Innehalten und Meditieren gibt. Museen und Kunsthallen zum Betrachten von Kunstwerken. Parkbänke zum Ausruhen und Wege zum Flanieren.
Und solange das Wort des Kirchenvaters Augustin aus dem 4. Jahrhundert Menschen findet, die es zu ihrem eigenen machen: „Unruhig ist unser Herz - bis es ruht in dir.“

https://www.kirche-im-swr.de/?m=20470
weiterlesen...