Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

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30AUG2007
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Da muss ich rauf – so schoss es mir durch den Kopf als ich den gigantischen Kirchturm sah. Bald stehe ich mit 15 mutigen und wissbegierigen Touristen vor dem 81 Meter hohen Kirchturm von Sankt Marien in Wismar. Riesig dieser Turm, faszinierend.
Schon bald beginnt der Aufstieg. Über 320 Stufen.
Die Turmführerin – eine junge selbstbewusste Frau gibt Informationen über die Geschichte des Turmes. Alle hören gespannt zu. Mit angespannter Stimme sagt die Führerin: „Im Jahre 1960 wurde das Kirchenschiff auf Veranlassung der DDR Behörden gesprengt.“ Was blieb, ist der große Kirchturm.
Jetzt ein wirklich betretenes Schweigen, ein Nachdenken bei allen. Mir geht es durch den Kopf und immer wieder - Was hat dieser Turm schon alles ausgehalten und mitbekommen? Ein wirklicher „ZeitZeuge“ und Mahner. Denn schon von weitem ist der Turm zu sehen und er ragt in den blauen Himmel von Mecklenburg-Pommern.
Im Jahre 1250 wurde mit dem Bau der Kirche begonnen – ein Meisterwerk der Backsteingotik und er gehört heute zum Weltkulturerbe. Der Turm hat alles mitbekommen: Kriege, politischen und kirchliche Wirren, die Reformation. Auch die Befriedung der Stadt, die Wechsel der Herrscher erschütterten immer wieder die politischen Festen von Wismar und all dies hat der Turm immer wieder als stummer Zeuge mitbekommen.
Seine größte Bewährungsprobe ist wohl der zweite Weltkrieg gewesen. Die Bombenangriffe vom 15. April 1945 zerstörten das Kirchenschiff. Die Stadt Wismar selbst wurde 12 mal schwer bombardiert.
Und wieder 15 Jahre später im April 1960 wie schon erwähnt, wird das Kirchenschiff gesprengt. Es war nicht die einzige Kirche in der ehemaligen DDR – und auch hier blieb aller Protest ungehört. Doch was blieb ist dieser Turm. Ein Wunder.
Wie ein mahnender Finger ragt heute der einsame Kirchturm von Sankt Marien Meter hoch in den Himmel.
Mir erscheint er selbstbewusst, fast trotzig und weil ihm sein Kirchenschiff fehlt, hat er eine große Anziehungskraft und Faszination für die Menschen. Seine Unvollständigkeit erinnert an das Kriegselend, an Armut und Zerstörung. Was von außen nicht zu sehen ist: In 70 Meter Höhe hängen immer noch die alten Glocken, fast unversehrt, klangecht. Sie werden immer wieder über der Stadt zum klingen gebracht. Als wir die Glocken zum Schwingen bringen, klingt das Glockenspiel wie ein Gesang gegen Kriegsgeräusche und Sirenen, gegen Sprengkraft von Gewalt. Der Kirchturm von Wismar – für mich ein Kirchturm mit einer tiefen Seele, ein Turm, der zum Frieden einlädt und das bis heute. https://www.kirche-im-swr.de/?m=2046
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