Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

Die alte Dame hadert, mit sich und ihrem geschundenen Körper. Wir kommen ins Gespräch, als ich sie im Altenheim besuche. Bei mir ist jetzt nicht reden, sondern  Zuhören angesagt.

Die alte Dame redet sich in Wut, sucht jemanden, den sie verantwortlich machen kann für ihre Krankheiten, für die Schwächen im Alter, für ihre Einsamkeit. Seit sie das Haus nicht mehr verlassen kann, ist alles schwieriger geworden. Die Gedanken sind rückwärtsgewandt – sie erinnert sich an verloren gegangene Fähigkeiten, das Klavierspielen – und vieles mehr, was sie jetzt nicht mehr ausführen kann.

Die alte Dame hadert, und sie hadert schließlich mit Gott. Jahrelang hat sie sich in der Kirchengemeinde engagiert, nichts war ihr zu viel, wenn Feste organisiert sein wollten. Und im Kirchenchor war sie jahrzehntelang eine wertvolle Stütze. Und nun das. Krank, allein, voller Angst und mit vielen Fragen. Dass Gott das zulässt, sagt sie fast beiläufig. Warum trifft es sie und warum nicht andere, die – zumindest in ihren Augen – viel weniger fromm und christlich lebten als sie selbst?

Das sind quälende Warum-Fragen, auf die es keine wirklichen Antworten gibt. Auch nicht vor mir. Die alte Dame wird stutzig, als ich andeute, dass ihre Fragen auch meine seien. Ich, wesentlich jünger als sie und dem äußeren Anschein nach nicht krank. Warum ist Gerechtigkeit in unserer Welt nicht möglich? Warum greift Gott nicht beherzt ein, wenn Menschen in Not sind? Gott ist offenkundig ganz anders, als wir ihn uns vorstellen.

Ein Satz aus der Bibel hilft mir da weiter. Er steht beim Propheten Jesaja: „Meine Gedanken sind nicht eure Gedanken, und eure Wege sind nicht meine Wege“, lässt er Gott einmal sagen. Es ist kein Wohlfühl-Gott, der da spricht, Da spricht ein Gott, der schlussendlich unbegreiflich bleibt.

Am Ende unseres Gespräches haben wir dann doch zusammen gebetet. Ein Vater unser geht immer! Die alte Dame betet zu dem Gott, der unbegreiflich bleibt, mit dem sie hadert und kämpft und an den sie sich doch voll Gottvertrauen klammert. Trotz allem, immer wieder.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=20454
weiterlesen...