Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

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Ein offensichtlich angetrunkener Mann mittleren Alters steigt in den Spätbus. Nach kurzem lautstarkem Palaver mit dem Busfahrer setzt er sich zu einem jungen Pärchen und fängt unge-fragt und in bester Laune an, den beiden seine Geschichte zu erzählen: Er hat den Abend mit Freunden verbracht. Erst haben sie Skat gespielt. Dann aber sind sie zu Poker übergegangen. Dabei er hatte so viel Glück, dass er den ganzen Abend nur gewonnen hat und nun um einige hundert Euro reicher ist. „Das muss doch gefeiert werden“ strahlt er und lädt unversehens den Mann und die Frau zum Essen ein, jetzt gleich, auf der Stelle. Die beiden, die zunächst amü-siert zugehört hatten, fühlen sich nun peinlich berührt. Sie haben keine Lust, der Einladung zu folgen. Erstens ist es spät, zweitens kennen sie den Mann nicht und drittens ist er betrunken – drei gute Gründe, auf Abstand zu gehen. Deshalb formulieren sie eine höfliche Entschuldigung, steigen an der nächsten Haltestelle aus und lassen den Angetrunkenen zurück.
Die jungen Leute haben sich völlig normal und erwartungsgemäß verhalten. Aber man stelle sich vor, sie hätten die Einladung angenommen, hätten dem zwar angetrunkenen, aber offen-sichtlich harmlosen Mann die Freude gemacht und ihn am Ende vielleicht sogar in seinem be-denklichen Zustand nach Hause gebracht oder in ein Taxi verfrachtet. Gewiss, das wäre un-gewöhnlich gewesen, aber irgendwie wäre es auch das bessere Ende dieser Begebenheit.
Jesus sagte man nach, er halte es mit zwielichtigen Gestalten, sei selbst ein Fresser und Säu-fer. Er ging nicht auf Abstand zu den Schwierigen und Merkwürdigen und ließ sich sogar bewir-ten von einem anerkannten Gauner, dem Zöllner Zachäus. Jesus sah in ihm nicht den gewis-senlosen Zolleintreiber, sondern den bereitwilligen Gastgeber. Damit ermöglichte er Zachäus, seine Ausbeuter-Rolle abzulegen und sich von einer besseren Seite zu zeigen, die ihm vielleicht selbst verborgen war. So etwas kann passieren bei ungewöhnlichen Gästen und Gastgebern. Wer weiß, welche interessante Seite sich an dem Angetrunkenen gezeigt hätte, wenn das Pärchen seine Einladung angenommen hätte. Und wer weiß, welche unbekannte Seite die beiden an sich selbst entdeckt hätten.



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