SWR2 Wort zum Tag

SWR2 Wort zum Tag

Die Wahrheit wird euch freimachen! An der Außenwand der Freiburger Uni steht dieser Satz. In goldenen Buchstaben. Seit mehr als 100 Jahren. Als Kind habe ich ihn durch die Fenster meiner Schule immer wieder gelesen. Diese bildhafte Erinnerung an diesen Satz Jesu habe ich bis heute nicht losbekommen.
Die Freiheit der Wissenschaft sollte dieser Satz damals sichern helfen. Im Streit mit dem Wahrheitsanspruch der Kirche. Als Motto hat dieser Satz keineswegs ausgedient. Ich glaube, die Wahrheit hat es heute noch schwerer als damals. Weil uns so viele Wahrheiten gleichzeitig angeboten werden.
Verschiedene Wahrheiten, die miteinander konkurrieren, die gibt es nicht nur in der Wissenschaft. Jede Lebensgeschichte setzt sich im Grunde aus solchen Wahrheiten zusammen. Ich erlebe das, wenn Menschen, die ich als Seelsorger begleite, mir Anteil geben an der Wahrheit über ihr Leben. Wenn sie mir berichten, wie sie zu der Person geworden sind, die sie sind. Wenn sie erzählen, wie andere ihnen immer wieder das Leben schwer machen. Ich kenne dann nur ihre Wahrheit. Aber wenn mir dann jemand begegnet, der in dieser Geschichte eine Rolle spielt, dann höre ich eine ganz andere Wahrheit. Und plötzlich prallen zwei Wahrheiten aufeinander.
Ein anderes Beispiel: Wenn ein Flüchtling berichtet, warum er seine Heimat verlassen hat, dann entdecke ich plötzlich ganz andere Zusammenhänge als in der Zeitung. Oder in den Nachrichten. Dann höre ich eine andere Wahrheit. Konkrete persönliche Erfahrungen und allgemeine politische Bewertungen – ich kann sie häufig nicht miteinander in Einklang bringen.
Befreien kann ich mich aus diesem Dilemma nur, wenn ich mir klar mache: Das, was ein Mensch konkret erlebt, und die Interessen eines Staates – sie prallen manchmal heftig aufeinander. Dann braucht es Kriterien, die helfen, sich zu entscheiden. Etwa für die Humanität. Und dafür, unliebsame Kritik auszuhalten. Weil die Nächstenliebe wichtiger ist als rationale politische Abwägungen. Oder gar Stimmungen am Stammtisch.
Das, was für mich wahr ist, muss sich an irgendetwas messen lassen. An etwas, das größer ist als kurzfristige Interessen. Mein Glaube bietet mir solche Maßstäbe. Daher ist es gut, dass dieser Satz immer noch an der Uni steht. Zur Ermahnung und zur Erinnerung. Nicht nur für die Wissenschaft.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=20420
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