SWR2 Wort zum Tag

SWR2 Wort zum Tag

Im Urlaub auf Teneriffa habe ich ganz unerwartet einen heiligen Moment erlebt. Es geschah auf offenem Meer. Neben unserem Boot schwamm plötzlich eine Familie von Grindwalen. Die mächtigen Tiere tauchten auf und ab, wir hörten das Geräusch ihres Atems, während wir den Atem anhielten. Plötzlich sind wir alle ganz still geworden. Das fröhliche Geschnatter an Bord wich einer andächtigen Stille. Der Skipper stellte den Motor ab. Die einzige, die relativ unbeeindruckt schien, war die junge Studentin, die die Tiere für Forschungszwecke zählte. Es war ein ganz besonderer Moment. Meine Nachbarin sagte: Das ist magisch. Ich fand es heilig. Ich glaube, wir spürten ähnlich, und beobachteten gebannt, wie sich die Körper der Tiere in das Meerwasser senkten, wie sie tauchten, dann wieder an der Oberfläche erschienen, manche ganz regelmäßig, andere wie spielerisch im wechselnden Rhythmus.
Ich hatte Wale schon in einem Meerwasserbecken beobachtet, doch hier, auf offenem Meer, war es völlig anders. Grindwale sind nicht einmal die größten Wale. Doch trotzdem wirkten sie in einer unmittelbar faszinierenden Art und Weise auf uns Menschen. Ich habe mich später an das biblische Gespräch zwischen Hiob und Gott erinnert. Gott fragt da Hiob: „Wo warst du, als ich die Erde gründete? Bist du zu den Quellen des Meeres gekommen und auf dem Grund der Tiefe gewandelt?“ Die Größe und Unerforschlichkeit der Schöpfung begegnete mir im schnaufenden Atmen der Walfamilie, die ihre Lungen hörbar mit Sauerstoff füllten, bevor sie wieder in der unendlichen Tiefe des Meeres verschwanden, um ihre Beute zu jagen. Hiob antwortet Gott: „Siehe, ich bin zu gering, was soll ich antworten?“ Und auch ich kam mir sehr klein vor auf diesem Boot, die Wellen gingen hoch, ich war ein kleines Menschlein in der rätselhaften Weite der Welt, die von Wesen bevölkert ist, die ich noch nie im Leben gesehen habe, und von anderen, deren Anblick mich verstummen lässt.
Sicher waren nicht alle Menschen auf diesem Boot gläubige Menschen. Trotzdem hat dieser Moment alle ergriffen, von der jungen Studentin einmal abgesehen. Als die Wale verschwunden waren, begann das Geschnatter der Stimmen wieder und der Skipper stellte den Motor an. War dann alles wie vorher? Ich hatte den Eindruck, die Stimmung hatte sich verändert. Die Menschen sind rücksichtsvoller miteinander umgegangen. Viele lächelten sich an, die Seekranken wurden getröstet und mit Tüten versorgt. Und als wir von Bord gingen, drängelte niemand.

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