SWR2 Wort zum Tag

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„Fremdeln“ nennt man es, wenn Kleinkinder Fremden gegenüber unsicher und misstrauisch reagieren. Ich habe das neulich in der U-Bahn erlebt. Da saß mir eine junge Frau mit einem Kleinkind gegenüber. Ein niedliches Kind. Alle Blicke wenden sich ihm zu. Doch unvermittelt ändert sich das fröhliche Mienenspiel, und das Kind fängt an zu weinen. Es brüllt richtig. „Entschuldigung“, sagt die junge Mutter, „es fremdelt halt grad so arg.“
Mir scheint: Fremdeln kommt nicht nur bei Kindern vor. Zur Zeit kommen viele Fremde in unser Land. Und sie bringen Fremdes mit, natürlich. Die Hiesigen erleben das ganz direkt, die meisten wissen davon allerdings nur vom Hörensagen. Viele engagieren sich in großartiger Weise für sie. Viele fremdeln aber auch – eine Reaktion auf das Unbekannte: Wer sind die? Was wollen die? Und warum sind die so viele?
Mich beschäftigt dazu ein Gedanke des Soziologen Hartmut Rosa. Er fragt nach den Ursachen für diese Reaktion. Sie ist ja in allen Bevölkerungskreisen zu beobachten, auch bei denen, die gar nicht unmittelbar in Kontakt kommen mit den Fremden. Hartmut Rosa sagt: Diese Abwehr speist sich nicht aus konkreten Erfahrungen, die gibt es in weiten Teilen des Landes überhaupt nicht. Aber viele erleben, dass es ihnen grundsätzlich an Resonanzerfahrungen in unserer Gesellschaft fehlt, an einem produktiven Hin und Her von Sich-Einmischen und Etwas-Bewirken-Können. Das gehört aber zum demokratischen Handeln. Politik muss etwas dafür tun, dass Menschen spüren: Ich kann etwas tun. Was ich tue, bewirkt etwas. Ein Gemeinwesen braucht solche Resonanz: ein Klingen, Tönen und Schwingen, ein Aufeinander-Reagieren. Dann kann man sich sicher fühlen und Vertrauen entwickeln.
Wo die Resonanz fehlt, fremdelt man. Bei einem Kind, das fremdelt, braucht es die Erfahrung, dass es vom Anderen eine freundliche Resonanz geben kann. Es kann dann eine ganze Weile dauern, bis eine Beziehung entsteht. Aber wenn Vertrauen gewachsen ist, wird es die Anderen nicht mehr mit Geschrei vertreiben.
Ich glaube, Gott gewährt uns solche Resonanzerfahrungen. Davon leben wir. Das Segenswort am Ende eines Gottesdiensten formuliert: „Gott lasse sein Angesicht leuchten über dir und sei dir gnädig“. Der Gedanke ist: Von Gottes Angesicht geht Licht aus. Dieses findet einen Widerschein, Resonanz auf den Gesichtern der Menschen. Das schafft Vertrauen und Zuversicht, auch für Unbekanntes und Neues.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=20385
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