SWR4 Abendgedanken

SWR4 Abendgedanken

Die Liebe versteht manches besser als der Kopf. Ein schönes Beispiel dafür hat mir eine Großmutter erzählt. Sie hat gesagt:
Beim ersten Mal habe ich mir nichts dabei gedacht, als mein Enkel gesagt hat:
Oma, ich habe einen Freund. Na ja, habe ich gedacht, dann ist ja gut.
Er war schon immer gerne mit anderen zusammen, hat die Großmutter erzählt, und sie fand auch, dass Ihr Enkel ein Mensch ist, mit dem man gerne zusammen ist.
Oma, ich habe einen Freund. Was hätte sie sich dabei denken sollen?
Dann kam ihre Tochter, ganz aufgelöst: Alle im Ort wissen es und jetzt reden sogar die in der Firma schon darüber. Wie der Junge ihr das antun kann…
Da fiel es der Großmutter wieder ein, was er von seinem Freund gesagt hatte:
Oma, ich habe einen Freund. Ihr Enkel liebt einen Mann. Martin ist schwul.
Natürlich war ich auch überrascht, hat mir die Oma von Martin erzählt.
Daran hatte sie nicht gedacht, als Martin von seinem Freund gesprochen hat.
Es hat einige Zeit gebraucht bis sie ihr inneres Gleichgewicht wiedergefunden hat. Wenn sie allein war – und sie war oft allein – hat sie lange innere Gespräche geführt. Sie hat mit sich gerungen. Da ging es oft heiß her in ihrem Herzen.
Da war auf der einen Seite die Tradition, das was sie gelernt hatte, was man ihr gesagt hatte, wie es richtig ist.
Da war auf der anderen Seite, das was sie selbst jetzt erlebt hat und was sie empfindet. Sie liebt doch ihren Enkel und will ihn wegen seiner sexuellen Orientierung nicht weniger lieben. Und sie wünscht ihm, dass er glücklich wird.
Mit der Zeit ist das befremdliche Gefühl verschwunden, hat mir die Frau erzählt. Sie hat an Martin gedacht. Sich daran erinnert, wie fürsorglich er war zu ihr, wie hilfsbereit. Sie hatte es immer genossen, wenn er gekommen ist. Manchmal hat er sie zum Friseur gefahren. Oder er hat das Leergut fortgebracht. Er hat sie zum Friedhof begleitet.
Und jetzt sollte das alles nicht mehr zählen, alles was sie so sehr an ihm geschätzt hatte, seine liebenswerte, aufmerksame Art. Das sollte jetzt nichts mehr zählen, weil Martin einen Mann liebte und nicht eine Frau.
Martin war schon länger nicht mehr gekommen, weil zu Hause so dicke Luft war. Da hat die Großmutter ihm eine Karte geschrieben:
Lieber Martin, dass du einen Freund hast, ist o.k. für mich.
Wann kommt ihr zum Essen. Ich würde ihn gerne einmal kennenlernen.

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