SWR4 Abendgedanken

SWR4 Abendgedanken

Jetzt ist die Zeit, in der das Korn reif wird.
Wer auf dem Land wohnt oder Ferien macht, der kann die weiten gelben Kornfelder überblicken. Es sieht wie ein goldenes Meer aus, wenn das Korn reif ist.
Und dann kann es geschehen, dass Sie von einem Tag auf den anderen nur noch das Stoppelfeld antreffen. Das Korn ist abgeerntet worden. Manchmal geschieht dies in der Nacht, mit starken Scheinwerfern – das sieht aus wie Flutlichternten.
Aus dem Kornfeld ist ein Stoppelfeld geworden.
Eine Frau hat mir neulich gesagt:
Es macht mich traurig, wenn ich ein Stoppelfeld sehe. Ich werde erinnert, dass meine Kräfte abnehmen. Manches Mal fühle ich mich selbst wie ein abgeräumtes Beet oder wie ein abgeerntetes Feld. Vieles was ich einmal konnte, das kann ich jetzt nicht mehr. Es wird immer weniger mit dem Sehen und mit dem Gehen und mit dem Behalten-Können.
Die Zeiten der Ernte, in denen ich für andere da sein konnte, sind vorüber. Daran werde ich im Sommer durch die abgeernteten Felder erinnert.
Ganz anders der bekannte Seelenarzt Viktor Frankl. Er hat seine Patientinnen und Patienten angeleitet, das Bild vom reifen Kornfeld und Stoppelfeld mit anderen Augen zu sehen. Er hat gesagt:
Wenn du am Ende nur noch das Stoppelfeld deines Lebens siehst, keine stolzen vollen Ähren, und wenn du dir dann die Frage stellst: Was bleibt? Ich sehe ja nur das abgeerntete Feld meines Lebens, das Stoppelfeld? Dann kannst du wissen, dass das ganze Getreide schon eingebracht ist. Die Scheunen sind voll. Deine Lebensernte ist heimgeholt.
So verschieden kann man auf das Stoppelfeld schauen.
Das eine Mal macht es traurig, das andere Mal tröstet es.
Ich wünsche mir, dass mich der Anblick eines Stoppelfeldes trösten kann.
Die Lebensernte ist eingebracht. Der Acker darf ausruhen. Die Scheunen sind gefüllt. Andere können von dem leben, was ich geschafft habe. Und fortsetzen, was ich angefangen habe. Nichts ist verloren. Es ist alles aufgehoben in den Scheunen der Ewigkeit.

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