SWR4 Abendgedanken

SWR4 Abendgedanken

Mit 72 Jahren mache ich mir über das Alter auch so meine Gedanken. Wie alt ich werde, weiß ich nicht. Verjüngen kann ich mein Leben nicht. Ich möchte auch nicht vor dem davon laufen, was unvermeidlich ist: dass die körperlichen und geistigen Kräfte abnehmen, dass ich einmal sterben werde. Ich möchte lernen, damit einverstanden zu sein. Ich möchte loslassen können: Seit jeher liebe ich Bücher. Aber ich habe drei viertel meiner recht grossen Bibliothek gezielt weggegeben. 

Eines möchte ich nicht und das wünsche ich auch niemandem: dass ich nur um meine Vergangenheit kreise, dass ich das Neue verwerfe und das Alte verkläre. Dabei schrullig und verbittert werde; den Jungen ihr Leben nicht gönne; oder gar beginne, andere zu tyrannisieren. Ich möchte nicht, dass auf mich dieser Satz aus der Bibel zutrifft: “Die alt an Jahren, sind nicht immer weise, nicht immer wissen Greise auch das Rechte.” (Ijob 32,9) 

Solange meine körperlichen und geistigen Kräfte es zulassen, möchte ich mir ein junges Herz bewahren und neugierig bleiben auf das, was andere fertig bringen. Das heißt für mich auch, Kontakt mit Jüngeren zu pflegen. Ich bin dankbar, befreundet zu sein mit Menschen, die um einiges jünger sind als ich. 

Ich glaube, älter und alt werden heißt nicht nur: abbauen, dahinwelken. Auch der Herbst des Lebens ist keine Katastrophe, sondern durchaus eine kostbare Zeit. Jede Lebensstufe hat ihre eigenen Werte, vielleicht sogar ihren eigenen Charme: Wenn ich den Blick mehr nach innen lenke. Wenn ich hineinschaue in den Schatz an Erinnerungen, in den Reichtum an Erfahrungen. Eine Tiefe, in der ich mir selbst begegne, in der ich inneren Frieden finde, möglicherweise eine heitere Gelassenheit. Ich vermute: darin besteht die immer wieder genannte “Weisheit des Alters”. 

Dabei wünsche ich mir und Ihnen, die Sie älter werden oder alt sind, einen neuen Blick auf Gott, auf das Ewige. Ich hoffe, dass sich mein Leben und das Leben aller einmal in Gott vollendet. Dass ich bei Gott gut aufgehoben bin – mit meiner ganzen Lebensgeschichte, mit meinem ganzen Packen Leben. 

Auf diesem Weg mache ich mir Gedanken des Theologen und Märtyrers Dietrich Bonhoeffer (1906-1945) zu eigen: 

“Je schöner und voller die Erinnerungen,

desto schwerer die Trennung.

Aber die Dankbarkeit verwandelt

die Qual der Erinnerung

in eine stille Freude.

Man trägt das vergangene Schöne

nicht mehr wie einen Stachel,

sondern wie ein kostbares Geschenk

in sich.” *  

 

*Dietrich Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung – Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft, Hrsg. Eberhard Bethge, Siebenstern Taschenbuch Verlag, Hamburg 1971/7, S. 99

 

https://www.kirche-im-swr.de/?m=20237
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