SWR2 Wort zum Tag

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Das Wehwehchen am Ohr und die Beule im Auto - wenn ich als Klinikseelsorgerin in das Krankenhaus komme, denke ich: was sind das für Lappalien, die mir da Sorgen machen! Lächerlich und winzig im Vergleich zu dem, was Menschen hier ertragen müssen. Wie halten die das nur aus? Doch auch hier hat es die einen mehr, die anderen weniger erwischt. Aber soll man dann sagen: Denken Sie dran: dem Patienten im Nachbarbett geht es noch viel schlimmer? Wenn ein Gesunder so zu einem Kranken spricht, ist das zynisch. Das geht vielleicht nur, wenn ein Kranker das einem Kranken sagt. So wie Christian Morgenstern.
„Das eigene Leid muss klein dir scheinen, wenn du bedenkst das Weh, die Not/ durch die viel tausend Augen weinen/ wenn du von allem Schmerz den deinen/nur kennst, so bist du seelisch tot.“
Das ist der Rat eines Kranken für Kranke. „Wenn ich meine Gedanken und mein Schaffen nicht hätte, wie würde ich dann wohl solch ein Krankenleben ertragen können?“ schrieb Christian Morgenstern. Ein Krankenleben, damit brachte er sein eigenes Leben auf den Begriff. Italien, Ungarn, Deutschland, Schweiz – als Lungenkranker irrte er in den europäischen Ländern umher „wie ein Vogel im Treibhaus“, immer auf der Suche nach einem Ort, an dem er es aushalten könnte, nach einer Kur, die ihm Linderung verschaffte, nach einem Krankenhaus, das ihn halbwegs wieder auf die Beine brachte. Aber gegen die Tuberkulose konnte man damals noch nicht viel ausrichten.
Dabei erlebt der Dichter durchaus „Stunden, Tage, Wochen vollkommener Gesundheit“, dann aber wieder solche des „Zerfalls“, der Schmerzen, der Verzweiflung. Aber selbst da gibt es Momente, in denen er  in seinem Schmerz auch wieder die anderen wahrnimmt. Und überlegt: Wie geht es denen? Wie geht es mir? Wer von uns ist schlechter dran? Irgendwie muss ihm damals klar geworden sein: Das ist kein Leben, „wenn du von allem Schmerz den deinen nur kennst“. Wenn man in Gedanken und Worten immer nur um sich selber kreist. Verständlich sicher, gerade für ihn. Aber eben doch kein Leben mehr. Und in einem anderen Gedicht schreibt Christian Morgenstern: „Du kannst dein eigenes Leid nicht tragen/es dünkt so tief dir und so schwer? So musst nach fremden Leid du fragen, versenken dich in fremde Klagen- die eigenen hörst du dann nicht mehr.“
Den anderen Zuhören und so die eigene innere Jammerstimme übertönen, für Morgenstern, der mit fünfundvierzig Jahren an Tuberkulose starb,  war das die Lösung. Und auch für alle, die sich mal wieder eine Beule ins Auto fahren oder zum Zahnarzt müssen.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=20226
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