SWR2 Wort zum Tag

SWR2 Wort zum Tag

Ich rechne gern. Schon als Junge war ich am Ende der Woche begierig auszurechnen: Was hat die harte Arbeit auf dem Spargelacker eingebracht? Wie viel Spargel haben wir gestochen? Hat die Plackerei sich auch ausgezahlt?
Zahlen können bestechen und faszinieren. Aber Faszination kann kippen in Obsession. Dann werden Zahlen zum Schlüssel für Leben. Ob es einem gut geht oder nicht, liest man an den Zahlen ab. Und dann scheint auch dieser Slogan so bestechend plausibel. „Unterm Strich zähl ich“.
Ich bin anscheinend nicht der einzige, der gern rechnet.
Aber was, wenn viele längst zu viel rechnen. In zu vielen Lebensbereichen die Zahlen der Maßstab sind? Kann es sein, dass wir uns dabei verrechnen und zu viele Menschen dabei ausgezählt werden? Weil der Nutzen zum Maß der Dinge wird, sogar des Glücks.
Und was bedeutet es, wenn wir „berechenbare“ Politik fordern?
Steckt darin sogar die Sehnsucht, den unberechenbaren „Faktor Mensch“, heraus zu rechnen?
Manchmal bestand das Drama um Griechenland nur noch aus Zahlen und Rechnen. Aber ist das Politik? Wie die großen Philosophen das Wort mal gemeint haben? „politika“: Einsatz für das Wohl der Polis, der Stadt. Für das Wohl des Gemeinwesens. Der Menschen.
Wo muss Berechnung aufhören, in mir und für das Zusammenleben? Damit wir uns menschlich nicht verrechnen. Und welche Maßstäbe können das Berechnen einhegen, seine kalte Logik menschlich erwärmen?
Für mich klingt seit einiger Zeit ein altes Wort wieder frisch, das keine Zukunft mehr zu haben schien. „Barmherzigkeit“.
Ich glaube, ein Wort mit großem Potential:
Nicht nur für religiöse Menschen. Da natürlich auch: ZB im Gespräch zwischen Juden Christen und Muslimen. Im Koran und in der Bibel ist Barmherzigkeit ein Wesenszug Gottes. „Islam ist Barmherzigkeit“ hat der muslimische Theologe Khorchide ein Buch betitelt. „Herr, Gott, barmherzig, und gnädig, geduldig, von großer Gnade und Treue“ (Psalm 86,15), steht an zentraler Stelle in der Bibel. Will heißen: Gott hat sein Herz bei den Armen und bei Menschen in jeglicher Notlage.
Aber Barmherzigkeit bleibt nicht Gott vorbehalten. Sie ist Humanpotential. Sie ist das Potential, das immerwährende Rechnen in uns anzuhalten. Wo Berechnungen das Leben gnadenlos machen, bringt Barmherzigkeit Herz ins Denken. Ich lasse mein Denken berühren von dem wie es anderen geht. Das ist nicht rührselig. Eher klarsichtig. So sieht man, dass es in Abgründe führt, wenn man das Rechnen nicht lassen kann. Herzliches Denken macht leidenschaftlich: Damit die Menschen zählen, denen es nicht gut geht.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=20171
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