SWR2 Wort zum Tag

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Wer einem Menschen in Not das Brot verweigert, der muss schon ein Herz aus Stein haben. – Davon handelt eine Legende aus der Innsbrucker Gegend: Hoch oben auf dem Kamm des Karwendelgebirges über der Alpenmetropole steht eine auffällige Steinzinne. Von Süden her kommend kann man sie gut sehen, und mit etwas Phantasie lässt sich darin eine Figur erkennen. Es sieht so aus, als würde ein riesenhaftes menschliches Wesen in ein langes Gewand gekleidet auf dem Gebirgskamm knien und mit versteinertem Gesicht ins Tal blicken.

Die zugehörige Legende erzählt von einer Frau, die vor langer Zeit hoch oben in den Bergen gewohnt habe. Einsam sei sie gewesen, und ihre Einsamkeit mag sie verschroben und mürrisch gemacht haben. Jedenfalls war sie gegenüber Einheimischen verschlossen und gegenüber Durchreisenden abweisend. Als eines Tages ein armer Wanderer an ihre Tür klopfte und um ein Stück Brot bat, schickte sie ihn laut fluchend fort. Doch die Begegnung mit dem Wanderer hatte Folgen: So steinern wie ihr Herz ihm gegenüber war, sollte nun auch ihr ganzer Körper werden. Sie erstarrte zu einer kalten felsigen Statue, die seither als mahnendes Denkmal oberhalb der Stadt Innsbruck steht.

Das klingt moralinsauer? Mich stört das nicht. Mir gefällt vielmehr, wie diese volkstümliche Legende mit „Brot“ und „Stein“ spielt. Der Hunger nach dem, was der Mensch zum Leben braucht, macht ihn zum Bettler. Das Stück „Brot“ steht für Nahrung, aber auch für andere materielle Dinge, die jeder zum Leben dringend braucht: Arbeit, Obdach, Gesundheitsversorgung… Und es ist ein Wanderer, der darum bittet: einer, dem Grund und Boden fehlt, um darauf Korn anzubauen. Einer, dem die Heimat mit den Lebensperspektiven, die sie üblicherweise bietet, entzogen ist.

Aber auch „Brot“ zu haben – selbst in diesem erweiterten Sinne –, macht noch nicht glücklich. „Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, er stirbt sogar am Brot allein“, sagt die Theologin Dorothee Sölle. Besitz kann einsam machen. Die Frau in der Einsamkeit der Berge hat zwar Brot, aber sie ist allein. Die Einsamkeit hat sie hart gemacht.

Was mich an der Geschichte besonders berührt, ist – glaube ich – dies, dass beide, die Frau und der Wanderer, bedürftig waren. Sie hätten Brot und Gemeinschaft teilen können und sich damit etwas gegeben, das beide reich macht.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=20148
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